Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.I. Fragment. Von der Geringheit Physiognomie dachte. Jch urtheilte einige male, ohne urtheilen zu wollen, diesen ersten Ein-drücken gemäß, und ward -- ausgelacht, erröthete, und wurde -- behutsam. -- -- Jahre giengen vorbey, eh ich's wieder wagte, ein schnelles, durch den ersten Eindruck gleichsam abgenö- thigtes, Urtheil zu fällen -- Unterdeß zeichnet' ich etwa einen Freund, auf dessen Gesicht mein Auge einige Minuten vorher stillbetrachtend verweilt hatte. -- Denn von meiner früh'sten Jugend an hatt' ich einen sehr starken Hang zum Zeichnen und besonders zum Porträtzeichnen, ob wol ich wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durchs Zeichnen fieng mein dunkels Gefühl an, nach und nach sich einigermaßen zu entwickeln, die Proportion, die Züge, die Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der menschlichen Gesichter wurden mir merkbarer -- Es fügte sich, daß ich etwa zween Tage nach einander ein paar Gesichter zeichnete, die gewisse sehr ähnliche Züge hatten; dieß fiel mir auf -- und ich erstaunte noch mehr, da ich aus andern Datis zuverläßig wußte, daß die Personen sich durch etwas ganz besonderes in ihrem Character auszeichneten. Jch will eine der ersten Veranlassungen dieser Art, und was sollte mich davon abhalten? send- *) Jch hätte gar sehr gewünscht, mit dem Bildniß dieses großen Geistes mein Werk zu zieren. Aber alle Versuche, es zu erhalten, waren vergeblich. **) Auch dieses Bild wär ich meinen Lesern schuldig,
und würd' es ihnen mit großem Vergnügen mittheilen, aber ich bin es nicht im Stande: Es war das beste, das fleißigste, das ich je gezeichnet, weit unterm Ori-[Spaltenumbruch] ginal -- aber doch nicht unähnlich! Jch sandt es nach dem Tode des Seligen an unsern gemeinschaftlichen Freund Herrn Füeßlin nach London, daß er es male- risch ausführen, und in einer allegorischen Dekoration radiren sollte! Aber es gefiel der Fürsehung nicht, daß ich das, zwar kränkelnde, Bild meines nun verklärten Bruders behalten, viel weniger gemein machen sollte. Jn I. Fragment. Von der Geringheit Phyſiognomie dachte. Jch urtheilte einige male, ohne urtheilen zu wollen, dieſen erſten Ein-druͤcken gemaͤß, und ward — ausgelacht, erroͤthete, und wurde — behutſam. — — Jahre giengen vorbey, eh ich's wieder wagte, ein ſchnelles, durch den erſten Eindruck gleichſam abgenoͤ- thigtes, Urtheil zu faͤllen — Unterdeß zeichnet' ich etwa einen Freund, auf deſſen Geſicht mein Auge einige Minuten vorher ſtillbetrachtend verweilt hatte. — Denn von meiner fruͤh'ſten Jugend an hatt' ich einen ſehr ſtarken Hang zum Zeichnen und beſonders zum Portraͤtzeichnen, ob wol ich wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durchs Zeichnen fieng mein dunkels Gefuͤhl an, nach und nach ſich einigermaßen zu entwickeln, die Proportion, die Zuͤge, die Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit der menſchlichen Geſichter wurden mir merkbarer — Es fuͤgte ſich, daß ich etwa zween Tage nach einander ein paar Geſichter zeichnete, die gewiſſe ſehr aͤhnliche Zuͤge hatten; dieß fiel mir auf — und ich erſtaunte noch mehr, da ich aus andern Datis zuverlaͤßig wußte, daß die Perſonen ſich durch etwas ganz beſonderes in ihrem Character auszeichneten. Jch will eine der erſten Veranlaſſungen dieſer Art, und was ſollte mich davon abhalten? ſend- *) Jch haͤtte gar ſehr gewuͤnſcht, mit dem Bildniß dieſes großen Geiſtes mein Werk zu zieren. Aber alle Verſuche, es zu erhalten, waren vergeblich. **) Auch dieſes Bild waͤr ich meinen Leſern ſchuldig,
und wuͤrd' es ihnen mit großem Vergnuͤgen mittheilen, aber ich bin es nicht im Stande: Es war das beſte, das fleißigſte, das ich je gezeichnet, weit unterm Ori-[Spaltenumbruch] ginal — aber doch nicht unaͤhnlich! Jch ſandt es nach dem Tode des Seligen an unſern gemeinſchaftlichen Freund Herrn Fuͤeßlin nach London, daß er es male- riſch ausfuͤhren, und in einer allegoriſchen Dekoration radiren ſollte! Aber es gefiel der Fuͤrſehung nicht, daß ich das, zwar kraͤnkelnde, Bild meines nun verklaͤrten Bruders behalten, viel weniger gemein machen ſollte. Jn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0032" n="8"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Fragment. Von der Geringheit</hi></fw><lb/> Phyſiognomie dachte. Jch urtheilte einige male, ohne urtheilen zu wollen, dieſen erſten Ein-<lb/> druͤcken gemaͤß, und ward — ausgelacht, erroͤthete, und wurde — behutſam. — — Jahre<lb/> giengen vorbey, eh ich's wieder wagte, ein ſchnelles, durch den erſten Eindruck gleichſam abgenoͤ-<lb/> thigtes, Urtheil zu faͤllen — Unterdeß zeichnet' ich etwa einen Freund, auf deſſen Geſicht mein<lb/> Auge einige Minuten vorher ſtillbetrachtend verweilt hatte. — Denn von meiner fruͤh'ſten Jugend<lb/> an hatt' ich einen ſehr ſtarken Hang zum Zeichnen und beſonders zum Portraͤtzeichnen, ob wol ich<lb/> wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durchs Zeichnen fieng mein dunkels Gefuͤhl an,<lb/> nach und nach ſich einigermaßen zu entwickeln, die Proportion, die Zuͤge, die Aehnlichkeit und<lb/> Unaͤhnlichkeit der menſchlichen Geſichter wurden mir merkbarer — Es fuͤgte ſich, daß ich etwa<lb/> zween Tage nach einander ein paar Geſichter zeichnete, die gewiſſe ſehr aͤhnliche Zuͤge hatten; dieß<lb/> fiel mir auf — und ich erſtaunte noch mehr, da ich aus andern Datis zuverlaͤßig wußte, daß die<lb/> Perſonen ſich durch etwas ganz beſonderes in ihrem Character auszeichneten.</p><lb/> <p>Jch will eine der erſten Veranlaſſungen dieſer Art, und was ſollte mich davon abhalten?<lb/> noch umſtaͤndlicher erzaͤhlen — Die Phyſiognomie des beruͤhmten Herrn <hi rendition="#fr">Lambert,</hi> <note place="foot" n="*)">Jch haͤtte gar ſehr gewuͤnſcht, mit dem Bildniß<lb/> dieſes großen Geiſtes mein Werk zu zieren. Aber alle<lb/> Verſuche, es zu erhalten, waren vergeblich.</note> der ſich<lb/> vor mehr als zwoͤlf Jahren in Zuͤrich aufgehalten, und den ich nachher wieder in Berlin zu finden<lb/> das Vergnuͤgen hatte, war eine von den erſten, die mich durch ihre ganz außerordentliche Bil-<lb/> dung frappirte, meine innerſten Nerven zittern machte — und mir ein Jch weiß nicht was —<lb/> von Ehrfurcht inſpirirte — — Dieſe Eindruͤcke wurden aber bald von andern verdraͤngt; ich<lb/> vergaß <hi rendition="#fr">Lamberten</hi> und ſeine Geſichtsbildung — Wol drey Jahre nachher zeichnet' ich, um noch<lb/> wenigſtens ſein Bild zu retten, meinen toͤdtlich kranken Herzensfreund <hi rendition="#fr">Felix Heßen.</hi> <note xml:id="seg2pn_1_1" next="#seg2pn_1_2" place="foot" n="**)">Auch dieſes Bild waͤr ich meinen Leſern ſchuldig,<lb/> und wuͤrd' es ihnen mit großem Vergnuͤgen mittheilen,<lb/> aber ich bin es nicht im Stande: Es war das beſte,<lb/> das fleißigſte, das ich je gezeichnet, weit unterm Ori-<cb/><lb/> ginal — aber doch nicht unaͤhnlich! Jch ſandt es<lb/> nach dem Tode des Seligen an unſern gemeinſchaftlichen<lb/> Freund Herrn <hi rendition="#fr">Fuͤeßlin</hi> nach London, daß er es male-<lb/> riſch ausfuͤhren, und in einer allegoriſchen Dekoration<lb/> radiren ſollte! Aber es gefiel der Fuͤrſehung nicht, daß<lb/> ich das, zwar kraͤnkelnde, Bild meines nun verklaͤrten<lb/> Bruders behalten, viel weniger gemein machen ſollte.<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jn</fw></note> Tau-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſend-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0032]
I. Fragment. Von der Geringheit
Phyſiognomie dachte. Jch urtheilte einige male, ohne urtheilen zu wollen, dieſen erſten Ein-
druͤcken gemaͤß, und ward — ausgelacht, erroͤthete, und wurde — behutſam. — — Jahre
giengen vorbey, eh ich's wieder wagte, ein ſchnelles, durch den erſten Eindruck gleichſam abgenoͤ-
thigtes, Urtheil zu faͤllen — Unterdeß zeichnet' ich etwa einen Freund, auf deſſen Geſicht mein
Auge einige Minuten vorher ſtillbetrachtend verweilt hatte. — Denn von meiner fruͤh'ſten Jugend
an hatt' ich einen ſehr ſtarken Hang zum Zeichnen und beſonders zum Portraͤtzeichnen, ob wol ich
wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durchs Zeichnen fieng mein dunkels Gefuͤhl an,
nach und nach ſich einigermaßen zu entwickeln, die Proportion, die Zuͤge, die Aehnlichkeit und
Unaͤhnlichkeit der menſchlichen Geſichter wurden mir merkbarer — Es fuͤgte ſich, daß ich etwa
zween Tage nach einander ein paar Geſichter zeichnete, die gewiſſe ſehr aͤhnliche Zuͤge hatten; dieß
fiel mir auf — und ich erſtaunte noch mehr, da ich aus andern Datis zuverlaͤßig wußte, daß die
Perſonen ſich durch etwas ganz beſonderes in ihrem Character auszeichneten.
Jch will eine der erſten Veranlaſſungen dieſer Art, und was ſollte mich davon abhalten?
noch umſtaͤndlicher erzaͤhlen — Die Phyſiognomie des beruͤhmten Herrn Lambert, *) der ſich
vor mehr als zwoͤlf Jahren in Zuͤrich aufgehalten, und den ich nachher wieder in Berlin zu finden
das Vergnuͤgen hatte, war eine von den erſten, die mich durch ihre ganz außerordentliche Bil-
dung frappirte, meine innerſten Nerven zittern machte — und mir ein Jch weiß nicht was —
von Ehrfurcht inſpirirte — — Dieſe Eindruͤcke wurden aber bald von andern verdraͤngt; ich
vergaß Lamberten und ſeine Geſichtsbildung — Wol drey Jahre nachher zeichnet' ich, um noch
wenigſtens ſein Bild zu retten, meinen toͤdtlich kranken Herzensfreund Felix Heßen. **) Tau-
ſend-
*) Jch haͤtte gar ſehr gewuͤnſcht, mit dem Bildniß
dieſes großen Geiſtes mein Werk zu zieren. Aber alle
Verſuche, es zu erhalten, waren vergeblich.
**) Auch dieſes Bild waͤr ich meinen Leſern ſchuldig,
und wuͤrd' es ihnen mit großem Vergnuͤgen mittheilen,
aber ich bin es nicht im Stande: Es war das beſte,
das fleißigſte, das ich je gezeichnet, weit unterm Ori-
ginal — aber doch nicht unaͤhnlich! Jch ſandt es
nach dem Tode des Seligen an unſern gemeinſchaftlichen
Freund Herrn Fuͤeßlin nach London, daß er es male-
riſch ausfuͤhren, und in einer allegoriſchen Dekoration
radiren ſollte! Aber es gefiel der Fuͤrſehung nicht, daß
ich das, zwar kraͤnkelnde, Bild meines nun verklaͤrten
Bruders behalten, viel weniger gemein machen ſollte.
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