Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen H. Ein zweyter Kopf nach Raphael. Stiller, nicht flüchtiger -- Leser -- was sagt dir und mir -- stille Beobachtung dieses Ra- Mir liegt drinne, mittheilende Versicherung auf das reinste ausgedrückt. Die beyge- Vielleicht
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen H. Ein zweyter Kopf nach Raphael. Stiller, nicht fluͤchtiger — Leſer — was ſagt dir und mir — ſtille Beobachtung dieſes Ra- Mir liegt drinne, mittheilende Verſicherung auf das reinſte ausgedruͤckt. Die beyge- Vielleicht
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XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
H.
Ein zweyter Kopf nach Raphael.
Stiller, nicht fluͤchtiger — Leſer — was ſagt dir und mir — ſtille Beobachtung dieſes Ra-
phaeliſchen Kopfes! — Wird er wohl beſtimmt genug gezeichnet ſeyn — um leicht erklaͤrbar
zu ſeyn? —
Mir liegt drinne, mittheilende Verſicherung auf das reinſte ausgedruͤckt. Die beyge-
zeichnete aufdeutende Hand, die Stellung des Ruͤckens laͤßt keinen Zweifel uͤbrig. — „Siehſt
„du den, der helfen kann, der hilft!“ ſcheint ſie mit fliegender Eile zu ſagen. Nur iſt ein
Fehler der Zeichnung zu bemerken, wodurch der Kopf ein ſchiefes Anſehn bekommt. Er ſoll nach
der Jntention des Erfinders nicht allein ſich vorbiegen, ſondern auch gegen den Zuſchauer
heruͤberhaͤngen. Daher ſieht man eben auf den Scheitel; die Stirne macht mit der Naſenwur-
zel einen ſanften Winkel, der Stirnknochen bedeckt das Augenlied, das Naslaͤppchen das Nas-
loch, die Oberlippe die Unterlippe, und darum ſieht man zwiſchen der Unterlippe und dem
Kinn ſo einen wunderbaren Raum, und ſo weit iſts noch ziemlich richtig, nur das Kinn geht
nicht genug ins Blatt hinein, und der Einſchnitt unten verdirbt alle Wirkung, indem er nach
der obern Lage des Kopfs von der Runde des Backen bedeckt ſeyn muͤßte. Dadurch bekommt
der Kopf ein falſches Anſehn, und man weis nicht, wodurch der reine feſte Eindruck geſtoͤrt
wird. Freylich iſt auch das Auge zu graß. Doch iſt die gepackte Stirne, der parallele Ruͤcken
der Naſe, die Fuͤlle der Wange ganz trefflich; und die uͤbermaͤßig vorſtehende Oberlippe ein
Beyſpiel zur Bemerkung, wie Raphael, um Wahrheit, Bedeutung und Wirkung hervorzu-
bringen, ſelbſt die Wahrheit geopfert. Schau einen Augenblick hinweg und dann wieder hin!
ſcheint ſie nicht zu ſprechen? Zwar ſpricht die ganze Stellung, in ihrer kleinſten Linie. Aber wo
concentrirt ſich alles? — Auf der Oberlippe! Jndem dein Aug' eine wahre proportionirte Lippe
erwartet, wird es hervorgefuͤhrt, die verlaͤngerte Lippe ſcheint ſich zu bewegen, und indem du
dich bemuͤhſt, ſie in Gedanken zuruͤck zu bringen, bewegt ſie ſich immer aufs neue vorwaͤrts;
auch ruht wirklich die ganze Kraft der Geſtalt auf dieſer Oberlippe.
Vielleicht
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