Stiller, nicht flüchtiger -- Leser -- was sagt dir und mir -- stille Beobachtung dieses Ra- phaelischen Kopfes! -- Wird er wohl bestimmt genug gezeichnet seyn -- um leicht erklärbar zu seyn? --
Mir liegt drinne, mittheilende Versicherung auf das reinste ausgedrückt. Die beyge- zeichnete aufdeutende Hand, die Stellung des Rückens läßt keinen Zweifel übrig. -- "Siehst "du den, der helfen kann, der hilft!" scheint sie mit fliegender Eile zu sagen. Nur ist ein Fehler der Zeichnung zu bemerken, wodurch der Kopf ein schiefes Ansehn bekommt. Er soll nach der Jntention des Erfinders nicht allein sich vorbiegen, sondern auch gegen den Zuschauer herüberhängen. Daher sieht man eben auf den Scheitel; die Stirne macht mit der Nasenwur- zel einen sanften Winkel, der Stirnknochen bedeckt das Augenlied, das Nasläppchen das Nas- loch, die Oberlippe die Unterlippe, und darum sieht man zwischen der Unterlippe und dem Kinn so einen wunderbaren Raum, und so weit ists noch ziemlich richtig, nur das Kinn geht nicht genug ins Blatt hinein, und der Einschnitt unten verdirbt alle Wirkung, indem er nach der obern Lage des Kopfs von der Runde des Backen bedeckt seyn müßte. Dadurch bekommt der Kopf ein falsches Ansehn, und man weis nicht, wodurch der reine feste Eindruck gestört wird. Freylich ist auch das Auge zu graß. Doch ist die gepackte Stirne, der parallele Rücken der Nase, die Fülle der Wange ganz trefflich; und die übermäßig vorstehende Oberlippe ein Beyspiel zur Bemerkung, wie Raphael, um Wahrheit, Bedeutung und Wirkung hervorzu- bringen, selbst die Wahrheit geopfert. Schau einen Augenblick hinweg und dann wieder hin! scheint sie nicht zu sprechen? Zwar spricht die ganze Stellung, in ihrer kleinsten Linie. Aber wo concentrirt sich alles? -- Auf der Oberlippe! Jndem dein Aug' eine wahre proportionirte Lippe erwartet, wird es hervorgeführt, die verlängerte Lippe scheint sich zu bewegen, und indem du dich bemühst, sie in Gedanken zurück zu bringen, bewegt sie sich immer aufs neue vorwärts; auch ruht wirklich die ganze Kraft der Gestalt auf dieser Oberlippe.
Vielleicht
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
H. Ein zweyter Kopf nach Raphael.
Stiller, nicht fluͤchtiger — Leſer — was ſagt dir und mir — ſtille Beobachtung dieſes Ra- phaeliſchen Kopfes! — Wird er wohl beſtimmt genug gezeichnet ſeyn — um leicht erklaͤrbar zu ſeyn? —
Mir liegt drinne, mittheilende Verſicherung auf das reinſte ausgedruͤckt. Die beyge- zeichnete aufdeutende Hand, die Stellung des Ruͤckens laͤßt keinen Zweifel uͤbrig. — „Siehſt „du den, der helfen kann, der hilft!“ ſcheint ſie mit fliegender Eile zu ſagen. Nur iſt ein Fehler der Zeichnung zu bemerken, wodurch der Kopf ein ſchiefes Anſehn bekommt. Er ſoll nach der Jntention des Erfinders nicht allein ſich vorbiegen, ſondern auch gegen den Zuſchauer heruͤberhaͤngen. Daher ſieht man eben auf den Scheitel; die Stirne macht mit der Naſenwur- zel einen ſanften Winkel, der Stirnknochen bedeckt das Augenlied, das Naslaͤppchen das Nas- loch, die Oberlippe die Unterlippe, und darum ſieht man zwiſchen der Unterlippe und dem Kinn ſo einen wunderbaren Raum, und ſo weit iſts noch ziemlich richtig, nur das Kinn geht nicht genug ins Blatt hinein, und der Einſchnitt unten verdirbt alle Wirkung, indem er nach der obern Lage des Kopfs von der Runde des Backen bedeckt ſeyn muͤßte. Dadurch bekommt der Kopf ein falſches Anſehn, und man weis nicht, wodurch der reine feſte Eindruck geſtoͤrt wird. Freylich iſt auch das Auge zu graß. Doch iſt die gepackte Stirne, der parallele Ruͤcken der Naſe, die Fuͤlle der Wange ganz trefflich; und die uͤbermaͤßig vorſtehende Oberlippe ein Beyſpiel zur Bemerkung, wie Raphael, um Wahrheit, Bedeutung und Wirkung hervorzu- bringen, ſelbſt die Wahrheit geopfert. Schau einen Augenblick hinweg und dann wieder hin! ſcheint ſie nicht zu ſprechen? Zwar ſpricht die ganze Stellung, in ihrer kleinſten Linie. Aber wo concentrirt ſich alles? — Auf der Oberlippe! Jndem dein Aug' eine wahre proportionirte Lippe erwartet, wird es hervorgefuͤhrt, die verlaͤngerte Lippe ſcheint ſich zu bewegen, und indem du dich bemuͤhſt, ſie in Gedanken zuruͤck zu bringen, bewegt ſie ſich immer aufs neue vorwaͤrts; auch ruht wirklich die ganze Kraft der Geſtalt auf dieſer Oberlippe.
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XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
H.
Ein zweyter Kopf nach Raphael.
Stiller, nicht fluͤchtiger — Leſer — was ſagt dir und mir — ſtille Beobachtung dieſes Ra-
phaeliſchen Kopfes! — Wird er wohl beſtimmt genug gezeichnet ſeyn — um leicht erklaͤrbar
zu ſeyn? —
Mir liegt drinne, mittheilende Verſicherung auf das reinſte ausgedruͤckt. Die beyge-
zeichnete aufdeutende Hand, die Stellung des Ruͤckens laͤßt keinen Zweifel uͤbrig. — „Siehſt
„du den, der helfen kann, der hilft!“ ſcheint ſie mit fliegender Eile zu ſagen. Nur iſt ein
Fehler der Zeichnung zu bemerken, wodurch der Kopf ein ſchiefes Anſehn bekommt. Er ſoll nach
der Jntention des Erfinders nicht allein ſich vorbiegen, ſondern auch gegen den Zuſchauer
heruͤberhaͤngen. Daher ſieht man eben auf den Scheitel; die Stirne macht mit der Naſenwur-
zel einen ſanften Winkel, der Stirnknochen bedeckt das Augenlied, das Naslaͤppchen das Nas-
loch, die Oberlippe die Unterlippe, und darum ſieht man zwiſchen der Unterlippe und dem
Kinn ſo einen wunderbaren Raum, und ſo weit iſts noch ziemlich richtig, nur das Kinn geht
nicht genug ins Blatt hinein, und der Einſchnitt unten verdirbt alle Wirkung, indem er nach
der obern Lage des Kopfs von der Runde des Backen bedeckt ſeyn muͤßte. Dadurch bekommt
der Kopf ein falſches Anſehn, und man weis nicht, wodurch der reine feſte Eindruck geſtoͤrt
wird. Freylich iſt auch das Auge zu graß. Doch iſt die gepackte Stirne, der parallele Ruͤcken
der Naſe, die Fuͤlle der Wange ganz trefflich; und die uͤbermaͤßig vorſtehende Oberlippe ein
Beyſpiel zur Bemerkung, wie Raphael, um Wahrheit, Bedeutung und Wirkung hervorzu-
bringen, ſelbſt die Wahrheit geopfert. Schau einen Augenblick hinweg und dann wieder hin!
ſcheint ſie nicht zu ſprechen? Zwar ſpricht die ganze Stellung, in ihrer kleinſten Linie. Aber wo
concentrirt ſich alles? — Auf der Oberlippe! Jndem dein Aug' eine wahre proportionirte Lippe
erwartet, wird es hervorgefuͤhrt, die verlaͤngerte Lippe ſcheint ſich zu bewegen, und indem du
dich bemuͤhſt, ſie in Gedanken zuruͤck zu bringen, bewegt ſie ſich immer aufs neue vorwaͤrts;
auch ruht wirklich die ganze Kraft der Geſtalt auf dieſer Oberlippe.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/282>, abgerufen am 23.02.2025.
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