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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Der Physiognomist.
Odem niederhorchenden Mutter -- wen der Händedruck eines treuen Freundes, und sein Blick,
der in einer zerfloßnen Zähre schwimmt -- wen das nicht rührt, wer drüber weghüpfen kann,
sich dem Anblick entreißt -- und spottlächelt, der wird eher seinen Vater erwürgen, als ein Phy-
siognomist werden.

Und was fordern wir denn von einem Physiognomisten? -- welches werden denn seine
Anlagen, Talente, Eigenschaften und Fertigkeiten seyn müssen?

Vor allen Dingen, wie zum Theil schon bemerkt worden, soll der Physiognomist, einen
wohlgebauten, wohlgestalten und fein organisirten Körper und scharfe Sinne haben, welche der
geringsten Eindrücke von außen fähig, und geschickt sind, dieselben getreu und unverändert bis zum
Gedächtniß, oder, wie ich lieber sagen wollte, zur Jmagination fortzuführen, und den Fibern
des Gehirns einzuprägen. Jnsonderheit muß sein Auge vorzüglich fein, hell, scharf, schnell und
feste seyn.

Diese feinen Sinne müssen seinen Beobachtungsgeist bilden, und hinwiederum durch den
Beobachtungsgeist ausgebildet und zum Beobachten geübt werden. Der Beobachtungsgeist muß
Herr über sie seyn.

Die schärfsten Augen sind nicht allemal, sind selten bey dem besten Beobachter. Die ge-
meinsten Köpfe haben sehr oft das beste Gesicht; und der blinde Sanderson würde beym schwäch-
sten Gesicht ein trefflicher Beobachter geworden seyn. --

Beobachten oder wahrnehmen mit Unterscheiden, ist die Seele der Physiognomik. Es
ist alles. Der Physiognomist muß den feinsten, schnellesten, sichersten, ausgebreitetsten Beob-
achtungsgeist haben. Beobachten ist Aufmerken. Aufmerken ist Richtung der Seele auf etwas
besonders, das sie sich aus einer Menge Gegenstände, die sie umgeben, oder die sie zu ihrer
Betrachtung wählen könnte, ausnimmt; Aufmerken ist, etwas mit Beyseitsetzung alles andern
absonderlich betrachten, und die Merkmale und Besonderheiten davon zergliedern; folglich unter-
scheiden. Beobachten, Aufmerken, Unterscheiden, Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten, Verhält-
niß und Mißverhältniß entdecken, ist das Werk des Verstandes. Ohne einen scharfen, hohen,

vorzüg-
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Der Phyſiognomiſt.
Odem niederhorchenden Mutter — wen der Haͤndedruck eines treuen Freundes, und ſein Blick,
der in einer zerfloßnen Zaͤhre ſchwimmt — wen das nicht ruͤhrt, wer druͤber weghuͤpfen kann,
ſich dem Anblick entreißt — und ſpottlaͤchelt, der wird eher ſeinen Vater erwuͤrgen, als ein Phy-
ſiognomiſt werden.

Und was fordern wir denn von einem Phyſiognomiſten? — welches werden denn ſeine
Anlagen, Talente, Eigenſchaften und Fertigkeiten ſeyn muͤſſen?

Vor allen Dingen, wie zum Theil ſchon bemerkt worden, ſoll der Phyſiognomiſt, einen
wohlgebauten, wohlgeſtalten und fein organiſirten Koͤrper und ſcharfe Sinne haben, welche der
geringſten Eindruͤcke von außen faͤhig, und geſchickt ſind, dieſelben getreu und unveraͤndert bis zum
Gedaͤchtniß, oder, wie ich lieber ſagen wollte, zur Jmagination fortzufuͤhren, und den Fibern
des Gehirns einzupraͤgen. Jnſonderheit muß ſein Auge vorzuͤglich fein, hell, ſcharf, ſchnell und
feſte ſeyn.

Dieſe feinen Sinne muͤſſen ſeinen Beobachtungsgeiſt bilden, und hinwiederum durch den
Beobachtungsgeiſt ausgebildet und zum Beobachten geuͤbt werden. Der Beobachtungsgeiſt muß
Herr uͤber ſie ſeyn.

Die ſchaͤrfſten Augen ſind nicht allemal, ſind ſelten bey dem beſten Beobachter. Die ge-
meinſten Koͤpfe haben ſehr oft das beſte Geſicht; und der blinde Sanderſon wuͤrde beym ſchwaͤch-
ſten Geſicht ein trefflicher Beobachter geworden ſeyn. —

Beobachten oder wahrnehmen mit Unterſcheiden, iſt die Seele der Phyſiognomik. Es
iſt alles. Der Phyſiognomiſt muß den feinſten, ſchnelleſten, ſicherſten, ausgebreitetſten Beob-
achtungsgeiſt haben. Beobachten iſt Aufmerken. Aufmerken iſt Richtung der Seele auf etwas
beſonders, das ſie ſich aus einer Menge Gegenſtaͤnde, die ſie umgeben, oder die ſie zu ihrer
Betrachtung waͤhlen koͤnnte, ausnimmt; Aufmerken iſt, etwas mit Beyſeitſetzung alles andern
abſonderlich betrachten, und die Merkmale und Beſonderheiten davon zergliedern; folglich unter-
ſcheiden. Beobachten, Aufmerken, Unterſcheiden, Aehnlichkeiten und Unaͤhnlichkeiten, Verhaͤlt-
niß und Mißverhaͤltniß entdecken, iſt das Werk des Verſtandes. Ohne einen ſcharfen, hohen,

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[173/0241] Der Phyſiognomiſt. Odem niederhorchenden Mutter — wen der Haͤndedruck eines treuen Freundes, und ſein Blick, der in einer zerfloßnen Zaͤhre ſchwimmt — wen das nicht ruͤhrt, wer druͤber weghuͤpfen kann, ſich dem Anblick entreißt — und ſpottlaͤchelt, der wird eher ſeinen Vater erwuͤrgen, als ein Phy- ſiognomiſt werden. Und was fordern wir denn von einem Phyſiognomiſten? — welches werden denn ſeine Anlagen, Talente, Eigenſchaften und Fertigkeiten ſeyn muͤſſen? Vor allen Dingen, wie zum Theil ſchon bemerkt worden, ſoll der Phyſiognomiſt, einen wohlgebauten, wohlgeſtalten und fein organiſirten Koͤrper und ſcharfe Sinne haben, welche der geringſten Eindruͤcke von außen faͤhig, und geſchickt ſind, dieſelben getreu und unveraͤndert bis zum Gedaͤchtniß, oder, wie ich lieber ſagen wollte, zur Jmagination fortzufuͤhren, und den Fibern des Gehirns einzupraͤgen. Jnſonderheit muß ſein Auge vorzuͤglich fein, hell, ſcharf, ſchnell und feſte ſeyn. Dieſe feinen Sinne muͤſſen ſeinen Beobachtungsgeiſt bilden, und hinwiederum durch den Beobachtungsgeiſt ausgebildet und zum Beobachten geuͤbt werden. Der Beobachtungsgeiſt muß Herr uͤber ſie ſeyn. Die ſchaͤrfſten Augen ſind nicht allemal, ſind ſelten bey dem beſten Beobachter. Die ge- meinſten Koͤpfe haben ſehr oft das beſte Geſicht; und der blinde Sanderſon wuͤrde beym ſchwaͤch- ſten Geſicht ein trefflicher Beobachter geworden ſeyn. — Beobachten oder wahrnehmen mit Unterſcheiden, iſt die Seele der Phyſiognomik. Es iſt alles. Der Phyſiognomiſt muß den feinſten, ſchnelleſten, ſicherſten, ausgebreitetſten Beob- achtungsgeiſt haben. Beobachten iſt Aufmerken. Aufmerken iſt Richtung der Seele auf etwas beſonders, das ſie ſich aus einer Menge Gegenſtaͤnde, die ſie umgeben, oder die ſie zu ihrer Betrachtung waͤhlen koͤnnte, ausnimmt; Aufmerken iſt, etwas mit Beyſeitſetzung alles andern abſonderlich betrachten, und die Merkmale und Beſonderheiten davon zergliedern; folglich unter- ſcheiden. Beobachten, Aufmerken, Unterſcheiden, Aehnlichkeiten und Unaͤhnlichkeiten, Verhaͤlt- niß und Mißverhaͤltniß entdecken, iſt das Werk des Verſtandes. Ohne einen ſcharfen, hohen, vorzuͤg- Z 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/241>, abgerufen am 22.11.2024.