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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XIV. Fragment.

"Dieser Jude hat nicht den mindesten Respect für seine Obrigkeit und seine Lehrer -- Er
"peitscht die Leute mit Stricken, die ihm wohl nie was zu Leide gethan! Er geht zu Gaste,
"wo man ihn nur haben will, und läßt sichs wohl seyn. Er ist ein rechter Händelstifter! Neuer-
"lich sagte er selbst zu seinen Consorten: Jch bin nicht gekommen Friede zu senden, sondern
"das Schwerdt!
" -- -- Welch ein Urtheil werdet ihr hier aus etlichen Handlungen fällen? --
Stellet hingegen den Mann vor euch hin, nur wie ihn -- nicht Raphael, nicht der größte Mah-
ler, nur wie ihn etwa ein Holbein sich gezeichnet hat; habt nur ein wenig physiognomisches Ge-
fühl; o mit welcher überschwenglichen Sicherheit und Richtigkeit werdet ihr gerade das Gegentheil
aus seinem Anblick urtheilen? --

Kurz: man überlege das wohl: wie vielmehr die Physiognomie einen ganzen Menschen
einem geübten Auge zeigt und darstellt; wie lautsprechend und wie richtig sprechend, welch ein le-
bendiger tausendzüngiger Ausdruck des ganzen Jnnwendigen der Mensch ist, der vor Euch -- da
steht; -- So wird man gewiß des unbesonnenen und unrichtigen Richtens und Urtheilens halber
gewiß nicht mehr, wohl aber weit weniger von der Physiognomik zu besorgen haben, wenn diese
das Glück haben sollte, allgemein zu werden und das Gefühl der Menschen mehr zu schärfen.

II.

Der andere Vorwurf, den man der Physiognomik macht, ist dieser: "Sie vereitle den
"Menschen noch mehr, indem sie ihn reize, nur deswegen gut zu werden, um schön zu seyn."

Wie du dieß oben sagtest, Beschützer der Unschuld, o wie war's so hinreissend gesagt! aber,
wie leid es mir auch thue, ich muß dir sagen: "daß dein Jdeal aus einer Unschuldswelt herabge-
"griffen ist, und nicht in unsere Welt paßt."

Die Menschen, die du bessern willst, sind nicht Kinder, die gut sind und nicht wissen, daß
sie's sind. Es sind Menschen, die Gutes und Böses durch Erfahrung unterscheiden lernen sollen;
Menschen, die, um vollkommen zu werden, nothwendig ihr Böses, und hiemit ganz gewiß auch
ihr Gutes kennen müssen. Laß neben dem Triebe edler Güte, das Verlangen nach dem Wohlge-
fallen der Guten immer auch mitwirken, immer eine Stütze -- wenn du willst, eine Krücke mensch-
licher Tugend seyn; laß den Menschen immerhin erkennen und fühlen, daß Gott das Laster mit

Häßlich-
XIV. Fragment.

„Dieſer Jude hat nicht den mindeſten Reſpect fuͤr ſeine Obrigkeit und ſeine Lehrer — Er
„peitſcht die Leute mit Stricken, die ihm wohl nie was zu Leide gethan! Er geht zu Gaſte,
„wo man ihn nur haben will, und laͤßt ſichs wohl ſeyn. Er iſt ein rechter Haͤndelſtifter! Neuer-
„lich ſagte er ſelbſt zu ſeinen Conſorten: Jch bin nicht gekommen Friede zu ſenden, ſondern
„das Schwerdt!
“ — — Welch ein Urtheil werdet ihr hier aus etlichen Handlungen faͤllen? —
Stellet hingegen den Mann vor euch hin, nur wie ihn — nicht Raphael, nicht der groͤßte Mah-
ler, nur wie ihn etwa ein Holbein ſich gezeichnet hat; habt nur ein wenig phyſiognomiſches Ge-
fuͤhl; o mit welcher uͤberſchwenglichen Sicherheit und Richtigkeit werdet ihr gerade das Gegentheil
aus ſeinem Anblick urtheilen? —

Kurz: man uͤberlege das wohl: wie vielmehr die Phyſiognomie einen ganzen Menſchen
einem geuͤbten Auge zeigt und darſtellt; wie lautſprechend und wie richtig ſprechend, welch ein le-
bendiger tauſendzuͤngiger Ausdruck des ganzen Jnnwendigen der Menſch iſt, der vor Euch — da
ſteht; — So wird man gewiß des unbeſonnenen und unrichtigen Richtens und Urtheilens halber
gewiß nicht mehr, wohl aber weit weniger von der Phyſiognomik zu beſorgen haben, wenn dieſe
das Gluͤck haben ſollte, allgemein zu werden und das Gefuͤhl der Menſchen mehr zu ſchaͤrfen.

II.

Der andere Vorwurf, den man der Phyſiognomik macht, iſt dieſer: „Sie vereitle den
„Menſchen noch mehr, indem ſie ihn reize, nur deswegen gut zu werden, um ſchoͤn zu ſeyn.“

Wie du dieß oben ſagteſt, Beſchuͤtzer der Unſchuld, o wie war's ſo hinreiſſend geſagt! aber,
wie leid es mir auch thue, ich muß dir ſagen: „daß dein Jdeal aus einer Unſchuldswelt herabge-
„griffen iſt, und nicht in unſere Welt paßt.“

Die Menſchen, die du beſſern willſt, ſind nicht Kinder, die gut ſind und nicht wiſſen, daß
ſie's ſind. Es ſind Menſchen, die Gutes und Boͤſes durch Erfahrung unterſcheiden lernen ſollen;
Menſchen, die, um vollkommen zu werden, nothwendig ihr Boͤſes, und hiemit ganz gewiß auch
ihr Gutes kennen muͤſſen. Laß neben dem Triebe edler Guͤte, das Verlangen nach dem Wohlge-
fallen der Guten immer auch mitwirken, immer eine Stuͤtze — wenn du willſt, eine Kruͤcke menſch-
licher Tugend ſeyn; laß den Menſchen immerhin erkennen und fuͤhlen, daß Gott das Laſter mit

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[168/0236] XIV. Fragment. „Dieſer Jude hat nicht den mindeſten Reſpect fuͤr ſeine Obrigkeit und ſeine Lehrer — Er „peitſcht die Leute mit Stricken, die ihm wohl nie was zu Leide gethan! Er geht zu Gaſte, „wo man ihn nur haben will, und laͤßt ſichs wohl ſeyn. Er iſt ein rechter Haͤndelſtifter! Neuer- „lich ſagte er ſelbſt zu ſeinen Conſorten: Jch bin nicht gekommen Friede zu ſenden, ſondern „das Schwerdt!“ — — Welch ein Urtheil werdet ihr hier aus etlichen Handlungen faͤllen? — Stellet hingegen den Mann vor euch hin, nur wie ihn — nicht Raphael, nicht der groͤßte Mah- ler, nur wie ihn etwa ein Holbein ſich gezeichnet hat; habt nur ein wenig phyſiognomiſches Ge- fuͤhl; o mit welcher uͤberſchwenglichen Sicherheit und Richtigkeit werdet ihr gerade das Gegentheil aus ſeinem Anblick urtheilen? — Kurz: man uͤberlege das wohl: wie vielmehr die Phyſiognomie einen ganzen Menſchen einem geuͤbten Auge zeigt und darſtellt; wie lautſprechend und wie richtig ſprechend, welch ein le- bendiger tauſendzuͤngiger Ausdruck des ganzen Jnnwendigen der Menſch iſt, der vor Euch — da ſteht; — So wird man gewiß des unbeſonnenen und unrichtigen Richtens und Urtheilens halber gewiß nicht mehr, wohl aber weit weniger von der Phyſiognomik zu beſorgen haben, wenn dieſe das Gluͤck haben ſollte, allgemein zu werden und das Gefuͤhl der Menſchen mehr zu ſchaͤrfen. II. Der andere Vorwurf, den man der Phyſiognomik macht, iſt dieſer: „Sie vereitle den „Menſchen noch mehr, indem ſie ihn reize, nur deswegen gut zu werden, um ſchoͤn zu ſeyn.“ Wie du dieß oben ſagteſt, Beſchuͤtzer der Unſchuld, o wie war's ſo hinreiſſend geſagt! aber, wie leid es mir auch thue, ich muß dir ſagen: „daß dein Jdeal aus einer Unſchuldswelt herabge- „griffen iſt, und nicht in unſere Welt paßt.“ Die Menſchen, die du beſſern willſt, ſind nicht Kinder, die gut ſind und nicht wiſſen, daß ſie's ſind. Es ſind Menſchen, die Gutes und Boͤſes durch Erfahrung unterſcheiden lernen ſollen; Menſchen, die, um vollkommen zu werden, nothwendig ihr Boͤſes, und hiemit ganz gewiß auch ihr Gutes kennen muͤſſen. Laß neben dem Triebe edler Guͤte, das Verlangen nach dem Wohlge- fallen der Guten immer auch mitwirken, immer eine Stuͤtze — wenn du willſt, eine Kruͤcke menſch- licher Tugend ſeyn; laß den Menſchen immerhin erkennen und fuͤhlen, daß Gott das Laſter mit Haͤßlich-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/236>, abgerufen am 18.12.2024.