Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten Man vergißt also sehr, zu bedenken, daß, wenn diese Einwendung gegründet wäre, oder Was ist alle Sprache anders, woraus besteht sie anders, als aus Wörtern, die allgemeine Die Eigenthumsnamen der Menschen, Häuser, Städte, Plätze, bisweilen auch einige Was ist aber ein jedes Wort, das einen allgemeinen Begriff bezeichnet, anders als der "Sie haben sich alle sehr gefreut" -- was ist nun dieß Freuen wieder anders, als der Beylage
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten Man vergißt alſo ſehr, zu bedenken, daß, wenn dieſe Einwendung gegruͤndet waͤre, oder Was iſt alle Sprache anders, woraus beſteht ſie anders, als aus Woͤrtern, die allgemeine Die Eigenthumsnamen der Menſchen, Haͤuſer, Staͤdte, Plaͤtze, bisweilen auch einige Was iſt aber ein jedes Wort, das einen allgemeinen Begriff bezeichnet, anders als der „Sie haben ſich alle ſehr gefreut“ — was iſt nun dieß Freuen wieder anders, als der Beylage
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0218" n="150"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">XI.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. Von einigen Schwierigkeiten</hi> </hi> </fw><lb/> <p>Man vergißt alſo ſehr, zu bedenken, daß, wenn dieſe Einwendung gegruͤndet waͤre, oder<lb/> wenn das, in voller Kraft, daraus folgte, was man erſt damit ſagen wollte, mit eben denſelben<lb/> Gruͤnden bewieſen werden koͤnnte; „daß wir nicht mehr den Mund aufthun ſollten.“ Jch will<lb/> mich erklaͤren.</p><lb/> <p>Was iſt alle Sprache anders, woraus beſteht ſie anders, als aus Woͤrtern, die allgemeine<lb/> Begriffe bezeichnen?</p><lb/> <p>Die Eigenthumsnamen der Menſchen, Haͤuſer, Staͤdte, Plaͤtze, bisweilen auch einige<lb/> Thiere ausgenommen.</p><lb/> <p>Was iſt aber ein jedes Wort, das einen allgemeinen Begriff bezeichnet, anders als der<lb/> Name einer Klaſſe von Dingen oder Eigenſchaften, Beſchaffenheiten, die ſich einander aͤhnlich ſind,<lb/> und in manchem noch unaͤhnlich? <hi rendition="#fr">Tugend</hi> und <hi rendition="#fr">Laſter</hi> ſind zwo Klaſſen von Handlungen und<lb/> Fertigkeiten; iſt aber nicht eine jede ſogenannte tugendhafte Handlung wieder von der andern ver-<lb/> ſchieden, und bis auf den Punkt, wo das Laſter angeht, ſo auf unzaͤhlige Weiſe verſchieden, daß<lb/> dieſe Klaſſifikation — ſo oft auch nichts taugt?</p><lb/> <p>„Sie haben ſich alle ſehr <hi rendition="#fr">gefreut</hi>“ — was iſt nun dieß <hi rendition="#fr">Freuen</hi> wieder anders, als der<lb/> Namen einer Klaſſe von Empfindungen, die in jedem Jndividuum, in jedem individuellen Zuſtande<lb/> deſſelben Jndividuums wieder ganz anders modificirt iſt? Jhr habt die Woͤrter <hi rendition="#fr">Freude, Mun-<lb/> terkeit, Aufgeraͤumtheit, Luſtigkeit, Froͤhlichkeit, Heiterkeit, frohes Weſen, Ent-<lb/> zuͤcken, Wonne, — Muthwill</hi> — thut noch zwanzig Woͤrter hinzu: Wie viele Millionen<lb/> Nuͤancen und Grade gehoͤren dazwiſchen hinein? wie viele tauſend Faͤlle, die unter keine dieſer Klaſ-<lb/> ſen ganz gehoͤren? Jſts nicht alſo ſo gar mit den Buchſtaben — werden nicht eine Menge Buchſta-<lb/> ben ausgeſprochen, die nicht <hi rendition="#fr">geſchrieben</hi> werden koͤnnen? die kein Zeichen haben, als die Zeichen<lb/> ihrer Klaſſe? Soll man denn um dieſer Unvollkommenheit willen entweder fuͤr jede individuelle<lb/> Situation, jede Veraͤnderung, jede Nuͤance, jeden Hauch, jede Regung — ein eigenes mit-<lb/> theilbares Zeichen haben, ein Wort ſchaffen — das heißt — <hi rendition="#fr">Gott ſeyn?</hi> oder ſoll man nicht<lb/> mehr ſprechen, weil alles Reden ein ewiges Klaſſificiren, alles Klaſſificiren aber — ein unvoll-<lb/> kommenes mangelhaftes Ding iſt? ....</p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Beylage</hi> </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0218]
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Man vergißt alſo ſehr, zu bedenken, daß, wenn dieſe Einwendung gegruͤndet waͤre, oder
wenn das, in voller Kraft, daraus folgte, was man erſt damit ſagen wollte, mit eben denſelben
Gruͤnden bewieſen werden koͤnnte; „daß wir nicht mehr den Mund aufthun ſollten.“ Jch will
mich erklaͤren.
Was iſt alle Sprache anders, woraus beſteht ſie anders, als aus Woͤrtern, die allgemeine
Begriffe bezeichnen?
Die Eigenthumsnamen der Menſchen, Haͤuſer, Staͤdte, Plaͤtze, bisweilen auch einige
Thiere ausgenommen.
Was iſt aber ein jedes Wort, das einen allgemeinen Begriff bezeichnet, anders als der
Name einer Klaſſe von Dingen oder Eigenſchaften, Beſchaffenheiten, die ſich einander aͤhnlich ſind,
und in manchem noch unaͤhnlich? Tugend und Laſter ſind zwo Klaſſen von Handlungen und
Fertigkeiten; iſt aber nicht eine jede ſogenannte tugendhafte Handlung wieder von der andern ver-
ſchieden, und bis auf den Punkt, wo das Laſter angeht, ſo auf unzaͤhlige Weiſe verſchieden, daß
dieſe Klaſſifikation — ſo oft auch nichts taugt?
„Sie haben ſich alle ſehr gefreut“ — was iſt nun dieß Freuen wieder anders, als der
Namen einer Klaſſe von Empfindungen, die in jedem Jndividuum, in jedem individuellen Zuſtande
deſſelben Jndividuums wieder ganz anders modificirt iſt? Jhr habt die Woͤrter Freude, Mun-
terkeit, Aufgeraͤumtheit, Luſtigkeit, Froͤhlichkeit, Heiterkeit, frohes Weſen, Ent-
zuͤcken, Wonne, — Muthwill — thut noch zwanzig Woͤrter hinzu: Wie viele Millionen
Nuͤancen und Grade gehoͤren dazwiſchen hinein? wie viele tauſend Faͤlle, die unter keine dieſer Klaſ-
ſen ganz gehoͤren? Jſts nicht alſo ſo gar mit den Buchſtaben — werden nicht eine Menge Buchſta-
ben ausgeſprochen, die nicht geſchrieben werden koͤnnen? die kein Zeichen haben, als die Zeichen
ihrer Klaſſe? Soll man denn um dieſer Unvollkommenheit willen entweder fuͤr jede individuelle
Situation, jede Veraͤnderung, jede Nuͤance, jeden Hauch, jede Regung — ein eigenes mit-
theilbares Zeichen haben, ein Wort ſchaffen — das heißt — Gott ſeyn? oder ſoll man nicht
mehr ſprechen, weil alles Reden ein ewiges Klaſſificiren, alles Klaſſificiren aber — ein unvoll-
kommenes mangelhaftes Ding iſt? ....
Beylage
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |