Eilftes Fragment. Von einigen Schwierigkeiten bey der Physiognomik.
Dieß Fragment sollte wohl das weitläuftigste in meinem ganzen Werke, und dessen ungeachtet wirds eines der kürzesten seyn. Kein ganzer Band, auch nicht der stärkste, würde hinrei- chend seyn, alle die unzählichen Schwierigkeiten, womit die Pysiognomik umgeben ist, darzustellen und zu entwickeln.
Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge- macht werden könnten) sind, wenn sie auch noch so wenig Grund haben -- und wie viele sind doch wirklich gegründet? immer wenigstens ein Beweis von dem allgemeinen Gefühle der Schwierig- keit, womit diese Kenntniß und Erforschung der Natur umgeben zu seyn scheint.
Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Physiognomik so viele Schwierigkeiten aufhäufen können, als ein philosophischer Physiognomiste bald genug erfahren wird. Tausendmal bin ich durch die Menge und Mannichfaltigkeit derselben bestürzt, und von allen weitern Erforschungen bey- nahe zurückgeschreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewisse, Feste, Zuverläßige, das ich einmal gesammelt hatte, und das durch tausend Erfahrungen bestätigt, und durch keine einzige Erfahrung umgestoßen ward, so weit aufgerichtet und gestärkt, daß ich wieder Muth faßte, mich durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuschlagen, und wo ich mich nicht durchschlagen konn- te, dieselben ruhig auf der Seite zu lassen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder sich ein Verei- nigungspunkt so mancher scheinbarer Widersprüche zeigen möchte.
Es ist überhaupt so eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe -- bey allen, auch den leichtesten und flächsten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken -- zu sehen, zu erschaffen, oder zu erdichten! Jch könnte eine Menge Gesichter nach einander vorführen, die diese Gabe in einem ausnehmenden Grade besitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be- stimmten Character. Uebrigens sind sie ganz treffliche Leute! Salz aller Gesellschaften -- aber nicht Speise! -- Jch bewundere ihre Talente; aber verbäte mir ihre Freundschaft, wenns je
möglich
XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Eilftes Fragment. Von einigen Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik.
Dieß Fragment ſollte wohl das weitlaͤuftigſte in meinem ganzen Werke, und deſſen ungeachtet wirds eines der kuͤrzeſten ſeyn. Kein ganzer Band, auch nicht der ſtaͤrkſte, wuͤrde hinrei- chend ſeyn, alle die unzaͤhlichen Schwierigkeiten, womit die Pyſiognomik umgeben iſt, darzuſtellen und zu entwickeln.
Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge- macht werden koͤnnten) ſind, wenn ſie auch noch ſo wenig Grund haben — und wie viele ſind doch wirklich gegruͤndet? immer wenigſtens ein Beweis von dem allgemeinen Gefuͤhle der Schwierig- keit, womit dieſe Kenntniß und Erforſchung der Natur umgeben zu ſeyn ſcheint.
Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phyſiognomik ſo viele Schwierigkeiten aufhaͤufen koͤnnen, als ein philoſophiſcher Phyſiognomiſte bald genug erfahren wird. Tauſendmal bin ich durch die Menge und Mannichfaltigkeit derſelben beſtuͤrzt, und von allen weitern Erforſchungen bey- nahe zuruͤckgeſchreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewiſſe, Feſte, Zuverlaͤßige, das ich einmal geſammelt hatte, und das durch tauſend Erfahrungen beſtaͤtigt, und durch keine einzige Erfahrung umgeſtoßen ward, ſo weit aufgerichtet und geſtaͤrkt, daß ich wieder Muth faßte, mich durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuſchlagen, und wo ich mich nicht durchſchlagen konn- te, dieſelben ruhig auf der Seite zu laſſen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder ſich ein Verei- nigungspunkt ſo mancher ſcheinbarer Widerſpruͤche zeigen moͤchte.
Es iſt uͤberhaupt ſo eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe — bey allen, auch den leichteſten und flaͤchſten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken — zu ſehen, zu erſchaffen, oder zu erdichten! Jch koͤnnte eine Menge Geſichter nach einander vorfuͤhren, die dieſe Gabe in einem ausnehmenden Grade beſitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be- ſtimmten Character. Uebrigens ſind ſie ganz treffliche Leute! Salz aller Geſellſchaften — aber nicht Speiſe! — Jch bewundere ihre Talente; aber verbaͤte mir ihre Freundſchaft, wenns je
moͤglich
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XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Eilftes Fragment.
Von einigen Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik.
Dieß Fragment ſollte wohl das weitlaͤuftigſte in meinem ganzen Werke, und deſſen ungeachtet
wirds eines der kuͤrzeſten ſeyn. Kein ganzer Band, auch nicht der ſtaͤrkſte, wuͤrde hinrei-
chend ſeyn, alle die unzaͤhlichen Schwierigkeiten, womit die Pyſiognomik umgeben iſt, darzuſtellen
und zu entwickeln.
Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge-
macht werden koͤnnten) ſind, wenn ſie auch noch ſo wenig Grund haben — und wie viele ſind doch
wirklich gegruͤndet? immer wenigſtens ein Beweis von dem allgemeinen Gefuͤhle der Schwierig-
keit, womit dieſe Kenntniß und Erforſchung der Natur umgeben zu ſeyn ſcheint.
Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phyſiognomik ſo viele Schwierigkeiten aufhaͤufen
koͤnnen, als ein philoſophiſcher Phyſiognomiſte bald genug erfahren wird. Tauſendmal bin ich
durch die Menge und Mannichfaltigkeit derſelben beſtuͤrzt, und von allen weitern Erforſchungen bey-
nahe zuruͤckgeſchreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewiſſe, Feſte, Zuverlaͤßige, das
ich einmal geſammelt hatte, und das durch tauſend Erfahrungen beſtaͤtigt, und durch keine einzige
Erfahrung umgeſtoßen ward, ſo weit aufgerichtet und geſtaͤrkt, daß ich wieder Muth faßte, mich
durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuſchlagen, und wo ich mich nicht durchſchlagen konn-
te, dieſelben ruhig auf der Seite zu laſſen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder ſich ein Verei-
nigungspunkt ſo mancher ſcheinbarer Widerſpruͤche zeigen moͤchte.
Es iſt uͤberhaupt ſo eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe — bey
allen, auch den leichteſten und flaͤchſten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken — zu
ſehen, zu erſchaffen, oder zu erdichten! Jch koͤnnte eine Menge Geſichter nach einander vorfuͤhren,
die dieſe Gabe in einem ausnehmenden Grade beſitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be-
ſtimmten Character. Uebrigens ſind ſie ganz treffliche Leute! Salz aller Geſellſchaften — aber
nicht Speiſe! — Jch bewundere ihre Talente; aber verbaͤte mir ihre Freundſchaft, wenns je
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/210>, abgerufen am 03.03.2025.
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