Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie "Die Statue des Apollo ist das höchste Jdeal der Kunst unter allen Werken des Al- "erhabner *) Winkelmannischer Enthusiasmus. Unkörperli- che Schönheiten! vielleicht eben so ein Unding, wie Geistlose Lebendigkeit. Weisheit, Tugend, Kraft, ist nirgends abstract, existirt nirgends, als in weisen, tugendhaften, mächtigen Substanzen! nirgends, als in sichtbaren, spürbaren, vermittelst körperlicher Werk- zeuge, wenigstens nicht ohne dieselben, erkennbaren Wesen. Wie viel weniger Schönheit! **) Hogarth ist nicht dieser Meynung. "Was
"könnte wohl, sagt er, den Gott des Tages sowohl "so stark, als auch so schön characterisiren, daß es "in einer Bildsäule ausgedrückt werden könnte, als "eine vorzügliche Geschwindigkeit, und eine edle "Schönheit? und wie poetisch bezeichnet nicht die[Spaltenumbruch] "Handlung, in welcher er vorgestellet ist, wie er "nämlich flüchtig vorwärts tritt und seinen Pfeil ab- "zuschießen scheinet, wenn anders der Pfeil die Son- "nenstralen bedeuten kann, die Geschwindigkeit. Diese "kann wenigstens eben sowohl vorausgesetzt werden, "als die gemeine Meynung, daß er den Drachen Py- "thon tödtet, welches sich gewiß sehr übel zu so einer "aufgerichteten Stellung, und zu einem so gütigen "Ansehen schicket. -- -- Die von dieser Bildsäule "gegebenen Nachrichten machen es so sehr wahrschein- "lich, daß sie den großen Delphischen Apollo vorstel- "let, daß ich für meinen Theil nicht dran zweifle, daß "es so ist." Hogarths Zergliederung der Schön- heit. S. 71. IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie „Die Statue des Apollo iſt das hoͤchſte Jdeal der Kunſt unter allen Werken des Al- „erhabner *) Winkelmanniſcher Enthuſiasmus. Unkoͤrperli- che Schoͤnheiten! vielleicht eben ſo ein Unding, wie Geiſtloſe Lebendigkeit. Weisheit, Tugend, Kraft, iſt nirgends abſtract, exiſtirt nirgends, als in weiſen, tugendhaften, maͤchtigen Subſtanzen! nirgends, als in ſichtbaren, ſpuͤrbaren, vermittelſt koͤrperlicher Werk- zeuge, wenigſtens nicht ohne dieſelben, erkennbaren Weſen. Wie viel weniger Schoͤnheit! **) Hogarth iſt nicht dieſer Meynung. „Was
„koͤnnte wohl, ſagt er, den Gott des Tages ſowohl „ſo ſtark, als auch ſo ſchoͤn characteriſiren, daß es „in einer Bildſaͤule ausgedruͤckt werden koͤnnte, als „eine vorzuͤgliche Geſchwindigkeit, und eine edle „Schoͤnheit? und wie poetiſch bezeichnet nicht die[Spaltenumbruch] „Handlung, in welcher er vorgeſtellet iſt, wie er „naͤmlich fluͤchtig vorwaͤrts tritt und ſeinen Pfeil ab- „zuſchießen ſcheinet, wenn anders der Pfeil die Son- „nenſtralen bedeuten kann, die Geſchwindigkeit. Dieſe „kann wenigſtens eben ſowohl vorausgeſetzt werden, „als die gemeine Meynung, daß er den Drachen Py- „thon toͤdtet, welches ſich gewiß ſehr uͤbel zu ſo einer „aufgerichteten Stellung, und zu einem ſo guͤtigen „Anſehen ſchicket. — — Die von dieſer Bildſaͤule „gegebenen Nachrichten machen es ſo ſehr wahrſchein- „lich, daß ſie den großen Delphiſchen Apollo vorſtel- „let, daß ich fuͤr meinen Theil nicht dran zweifle, daß „es ſo iſt.“ Hogarths Zergliederung der Schoͤn- heit. S. 71. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0200" n="132"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">IX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie</hi> </hi> </fw><lb/> <p>„Die Statue des Apollo iſt das hoͤchſte Jdeal der Kunſt unter allen Werken des Al-<lb/> „terthums, welche der Zerſtoͤrung derſelben entgangen ſind. Der Kuͤnſtler derſelben hat dieſes<lb/> „Werk gaͤnzlich auf das Jdeal gebaut, und er hat nur eben ſo viel von der Materie dazu ge-<lb/> „nommen, als noͤthig war, ſeine Abſicht auszufuͤhren und ſichtbar zu machen. Dieſer Apollo<lb/> „uͤbertrifft alle andere Bilder deſſelben ſo weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die<lb/> „folgenden Dichter mahlen. Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewaͤchs, und ſein Stand<lb/> „zeuget von der ihn erfuͤllenden Groͤße. Ein ewiger Fruͤhling wie in dem gluͤcklichen Elyſium<lb/> „bekleidet die reizende Maͤnnlichkeit vollkommener Jahre mit gefaͤlliger Jugend, und ſpielet mit<lb/> „ſanften Zaͤrtlichkeiten auf dem ſtolzen Gebaͤude ſeiner Glieder. Gehe mit dieſem Geiſt in das<lb/> „Reich unkoͤrperlicher Schoͤnheiten, <note place="foot" n="*)">Winkelmanniſcher Enthuſiasmus. Unkoͤrperli-<lb/> che Schoͤnheiten! vielleicht eben ſo ein Unding, wie<lb/> Geiſtloſe Lebendigkeit. Weisheit, Tugend, Kraft,<lb/> iſt nirgends abſtract, exiſtirt nirgends, als in weiſen,<lb/> tugendhaften, maͤchtigen Subſtanzen! nirgends, als<lb/> in ſichtbaren, ſpuͤrbaren, vermittelſt koͤrperlicher Werk-<lb/> zeuge, wenigſtens nicht ohne dieſelben, erkennbaren<lb/> Weſen. Wie viel weniger Schoͤnheit!</note> und verſuche, ein Schoͤpfer einer himmliſchen Natur zu<lb/> „werden, und den Geiſt mit Schoͤnheiten, die ſich uͤber die Natur erheben, zu erfuͤllen. Denn<lb/> „hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche Duͤrftigkeit erfordert. Keine Adern<lb/> „noch Sehnen erhitzen und regen dieſen Koͤrper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich, wie<lb/> „ein ſanfter Strom ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfuͤllet. Er<lb/> „hat den Python, wider welchen er zuerſt ſeinen Bogen gebraucht, verfolget, <note place="foot" n="**)">Hogarth iſt nicht dieſer Meynung. „Was<lb/> „koͤnnte wohl, ſagt er, den Gott des Tages ſowohl<lb/> „ſo ſtark, als auch ſo ſchoͤn characteriſiren, daß es<lb/> „in einer Bildſaͤule ausgedruͤckt werden koͤnnte, als<lb/> „eine vorzuͤgliche Geſchwindigkeit, und eine edle<lb/> „Schoͤnheit? und wie poetiſch bezeichnet nicht die<cb/><lb/> „Handlung, in welcher er vorgeſtellet iſt, wie er<lb/> „naͤmlich fluͤchtig vorwaͤrts tritt und ſeinen Pfeil ab-<lb/> „zuſchießen ſcheinet, wenn anders der Pfeil die Son-<lb/> „nenſtralen bedeuten kann, die Geſchwindigkeit. Dieſe<lb/> „kann wenigſtens eben ſowohl vorausgeſetzt werden,<lb/> „als die gemeine Meynung, daß er den Drachen Py-<lb/> „thon toͤdtet, welches ſich gewiß ſehr uͤbel zu ſo einer<lb/> „aufgerichteten Stellung, und zu einem ſo guͤtigen<lb/> „Anſehen ſchicket. — — Die von dieſer Bildſaͤule<lb/> „gegebenen Nachrichten machen es ſo ſehr wahrſchein-<lb/> „lich, daß ſie den großen Delphiſchen Apollo vorſtel-<lb/> „let, daß ich fuͤr meinen Theil nicht dran zweifle, daß<lb/> „es ſo iſt.“ Hogarths Zergliederung der Schoͤn-<lb/> heit. S. 71.</note> und ſein<lb/> „maͤchtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Hoͤhe ſeiner Genugſamkeit geht ſein<lb/> <fw place="bottom" type="catch">„erhabner</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [132/0200]
IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie
„Die Statue des Apollo iſt das hoͤchſte Jdeal der Kunſt unter allen Werken des Al-
„terthums, welche der Zerſtoͤrung derſelben entgangen ſind. Der Kuͤnſtler derſelben hat dieſes
„Werk gaͤnzlich auf das Jdeal gebaut, und er hat nur eben ſo viel von der Materie dazu ge-
„nommen, als noͤthig war, ſeine Abſicht auszufuͤhren und ſichtbar zu machen. Dieſer Apollo
„uͤbertrifft alle andere Bilder deſſelben ſo weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die
„folgenden Dichter mahlen. Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewaͤchs, und ſein Stand
„zeuget von der ihn erfuͤllenden Groͤße. Ein ewiger Fruͤhling wie in dem gluͤcklichen Elyſium
„bekleidet die reizende Maͤnnlichkeit vollkommener Jahre mit gefaͤlliger Jugend, und ſpielet mit
„ſanften Zaͤrtlichkeiten auf dem ſtolzen Gebaͤude ſeiner Glieder. Gehe mit dieſem Geiſt in das
„Reich unkoͤrperlicher Schoͤnheiten, *) und verſuche, ein Schoͤpfer einer himmliſchen Natur zu
„werden, und den Geiſt mit Schoͤnheiten, die ſich uͤber die Natur erheben, zu erfuͤllen. Denn
„hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche Duͤrftigkeit erfordert. Keine Adern
„noch Sehnen erhitzen und regen dieſen Koͤrper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich, wie
„ein ſanfter Strom ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfuͤllet. Er
„hat den Python, wider welchen er zuerſt ſeinen Bogen gebraucht, verfolget, **) und ſein
„maͤchtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Hoͤhe ſeiner Genugſamkeit geht ſein
„erhabner
*) Winkelmanniſcher Enthuſiasmus. Unkoͤrperli-
che Schoͤnheiten! vielleicht eben ſo ein Unding, wie
Geiſtloſe Lebendigkeit. Weisheit, Tugend, Kraft,
iſt nirgends abſtract, exiſtirt nirgends, als in weiſen,
tugendhaften, maͤchtigen Subſtanzen! nirgends, als
in ſichtbaren, ſpuͤrbaren, vermittelſt koͤrperlicher Werk-
zeuge, wenigſtens nicht ohne dieſelben, erkennbaren
Weſen. Wie viel weniger Schoͤnheit!
**) Hogarth iſt nicht dieſer Meynung. „Was
„koͤnnte wohl, ſagt er, den Gott des Tages ſowohl
„ſo ſtark, als auch ſo ſchoͤn characteriſiren, daß es
„in einer Bildſaͤule ausgedruͤckt werden koͤnnte, als
„eine vorzuͤgliche Geſchwindigkeit, und eine edle
„Schoͤnheit? und wie poetiſch bezeichnet nicht die
„Handlung, in welcher er vorgeſtellet iſt, wie er
„naͤmlich fluͤchtig vorwaͤrts tritt und ſeinen Pfeil ab-
„zuſchießen ſcheinet, wenn anders der Pfeil die Son-
„nenſtralen bedeuten kann, die Geſchwindigkeit. Dieſe
„kann wenigſtens eben ſowohl vorausgeſetzt werden,
„als die gemeine Meynung, daß er den Drachen Py-
„thon toͤdtet, welches ſich gewiß ſehr uͤbel zu ſo einer
„aufgerichteten Stellung, und zu einem ſo guͤtigen
„Anſehen ſchicket. — — Die von dieſer Bildſaͤule
„gegebenen Nachrichten machen es ſo ſehr wahrſchein-
„lich, daß ſie den großen Delphiſchen Apollo vorſtel-
„let, daß ich fuͤr meinen Theil nicht dran zweifle, daß
„es ſo iſt.“ Hogarths Zergliederung der Schoͤn-
heit. S. 71.
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/200>, abgerufen am 28.07.2024. |