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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
geraden einfältigen Wahrheit ihn so kurz und so treffend zeichnete -- "Auswendig weiße Tod-
"tengräber! Jnwendig Verwesung!" -- Wie das Volk dieses gefühlt haben muß! wie's auf der
Stirne der Böswichter zu lesen, wie's ihre Schalkheit im Gesichte zu entziefern erweckt wor-
den seyn muß! Larve ward abgerissen! Schimmer, Lichtdunst der Kleidung, der Würde, der
Amtsmiene, des breiten Denkzettels -- Murmeln des Gebeths -- Ernster Tritt! Vorhängen
des Kopfs! Bedenkliche Gebärde! Hörbare Seufzer: "Jch danke dir o Gott! daß ich nicht
"bin -- wie dieser Zöllner -- ich gebe den Zehenden von allem" -- wie leicht das alles den
Pöbel blenden, das alles Dunst um ein Teufelsgesicht herweben kann, daß man ihm zwar
nicht glaubt -- aber sich der Sünde drum fürchtete -- ein Urtheil drüber auszusprechen, oder
auch nur heraus zu denken! -- aber wie's dann auch der roheste Pöbel fühlt, wie's ihm dann
doch, so sehr er's sich verbergen wollte, aus dem Herzen heraus gesprochen ward -- wenn mit
offnem unverwirrtem Angesicht, wenn mit aufgerichteter Brust, wenn mit dem absichtlosen
Blicke der festen Tugend, wenn mit dem allmächtigen Tone der sich fühlenden Redlichkeit und
der entbrannten Menschenliebe Johannes rief: "Nattergezüchte! wer unterweist euch, dem
"künftigen Zorn zu entrinnen!" -- Wenn die noch erhabnere, noch sanftere Unschuld, deren
Zorn um so viel furchtbarer, um so viel ihre Güte noch menschlicher und göttlicher war, wenn
diese unerschüttert, diese nicht niedergeblendet von dem tiefgefühlten, und dennoch ohnmächtigen,
unerträglichfrechen, und dennoch kriechenden Blicke dieser Verworfnen -- ihnen so ins gebrannd-
markte Angesicht rief: "Heuchler! Weh Euch! Blinde Führer! alles thun sie, um von den
"Leuten gesehen zu werden! Jhr scheint auswendig vor den Menschen gerecht! Jnwendig seyd
"ihr voll Gleißnerey und Ungerechtigkeit" -- --

Aber nun das rasende Gesicht mit der Pelzmütze, dem grimmigen falschen Aug' und
offenem Mund! Wie's unsinnig sich zerarbeitet, dem Pöbel Verbrechen der Unschuld an den
Fingern vorzuzählen! oder den volkaufwiegelnden Pharisäer noch mehr aufzuwiegeln, und ihn,
wie ein Satan zu inspiriren! wie's nur keine Spur mehr von Religion zeigt! Nicht mehr
heucheln will und kann! wozu heucheln? Er heult, wie ein Hund und dürstet nach Blut! nach
Blut vom Creuze des Nazareners! --

Neben

IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
geraden einfaͤltigen Wahrheit ihn ſo kurz und ſo treffend zeichnete — „Auswendig weiße Tod-
„tengraͤber! Jnwendig Verweſung!“ — Wie das Volk dieſes gefuͤhlt haben muß! wie's auf der
Stirne der Boͤswichter zu leſen, wie's ihre Schalkheit im Geſichte zu entziefern erweckt wor-
den ſeyn muß! Larve ward abgeriſſen! Schimmer, Lichtdunſt der Kleidung, der Wuͤrde, der
Amtsmiene, des breiten Denkzettels — Murmeln des Gebeths — Ernſter Tritt! Vorhaͤngen
des Kopfs! Bedenkliche Gebaͤrde! Hoͤrbare Seufzer: „Jch danke dir o Gott! daß ich nicht
„bin — wie dieſer Zoͤllner — ich gebe den Zehenden von allem“ — wie leicht das alles den
Poͤbel blenden, das alles Dunſt um ein Teufelsgeſicht herweben kann, daß man ihm zwar
nicht glaubt — aber ſich der Suͤnde drum fuͤrchtete — ein Urtheil druͤber auszuſprechen, oder
auch nur heraus zu denken! — aber wie's dann auch der roheſte Poͤbel fuͤhlt, wie's ihm dann
doch, ſo ſehr er's ſich verbergen wollte, aus dem Herzen heraus geſprochen ward — wenn mit
offnem unverwirrtem Angeſicht, wenn mit aufgerichteter Bruſt, wenn mit dem abſichtloſen
Blicke der feſten Tugend, wenn mit dem allmaͤchtigen Tone der ſich fuͤhlenden Redlichkeit und
der entbrannten Menſchenliebe Johannes rief: „Nattergezuͤchte! wer unterweiſt euch, dem
„kuͤnftigen Zorn zu entrinnen!“ — Wenn die noch erhabnere, noch ſanftere Unſchuld, deren
Zorn um ſo viel furchtbarer, um ſo viel ihre Guͤte noch menſchlicher und goͤttlicher war, wenn
dieſe unerſchuͤttert, dieſe nicht niedergeblendet von dem tiefgefuͤhlten, und dennoch ohnmaͤchtigen,
unertraͤglichfrechen, und dennoch kriechenden Blicke dieſer Verworfnen — ihnen ſo ins gebrannd-
markte Angeſicht rief: „Heuchler! Weh Euch! Blinde Fuͤhrer! alles thun ſie, um von den
„Leuten geſehen zu werden! Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht! Jnwendig ſeyd
„ihr voll Gleißnerey und Ungerechtigkeit“ — —

Aber nun das raſende Geſicht mit der Pelzmuͤtze, dem grimmigen falſchen Aug' und
offenem Mund! Wie's unſinnig ſich zerarbeitet, dem Poͤbel Verbrechen der Unſchuld an den
Fingern vorzuzaͤhlen! oder den volkaufwiegelnden Phariſaͤer noch mehr aufzuwiegeln, und ihn,
wie ein Satan zu inſpiriren! wie's nur keine Spur mehr von Religion zeigt! Nicht mehr
heucheln will und kann! wozu heucheln? Er heult, wie ein Hund und duͤrſtet nach Blut! nach
Blut vom Creuze des Nazareners! —

Neben
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[88/0122] IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie geraden einfaͤltigen Wahrheit ihn ſo kurz und ſo treffend zeichnete — „Auswendig weiße Tod- „tengraͤber! Jnwendig Verweſung!“ — Wie das Volk dieſes gefuͤhlt haben muß! wie's auf der Stirne der Boͤswichter zu leſen, wie's ihre Schalkheit im Geſichte zu entziefern erweckt wor- den ſeyn muß! Larve ward abgeriſſen! Schimmer, Lichtdunſt der Kleidung, der Wuͤrde, der Amtsmiene, des breiten Denkzettels — Murmeln des Gebeths — Ernſter Tritt! Vorhaͤngen des Kopfs! Bedenkliche Gebaͤrde! Hoͤrbare Seufzer: „Jch danke dir o Gott! daß ich nicht „bin — wie dieſer Zoͤllner — ich gebe den Zehenden von allem“ — wie leicht das alles den Poͤbel blenden, das alles Dunſt um ein Teufelsgeſicht herweben kann, daß man ihm zwar nicht glaubt — aber ſich der Suͤnde drum fuͤrchtete — ein Urtheil druͤber auszuſprechen, oder auch nur heraus zu denken! — aber wie's dann auch der roheſte Poͤbel fuͤhlt, wie's ihm dann doch, ſo ſehr er's ſich verbergen wollte, aus dem Herzen heraus geſprochen ward — wenn mit offnem unverwirrtem Angeſicht, wenn mit aufgerichteter Bruſt, wenn mit dem abſichtloſen Blicke der feſten Tugend, wenn mit dem allmaͤchtigen Tone der ſich fuͤhlenden Redlichkeit und der entbrannten Menſchenliebe Johannes rief: „Nattergezuͤchte! wer unterweiſt euch, dem „kuͤnftigen Zorn zu entrinnen!“ — Wenn die noch erhabnere, noch ſanftere Unſchuld, deren Zorn um ſo viel furchtbarer, um ſo viel ihre Guͤte noch menſchlicher und goͤttlicher war, wenn dieſe unerſchuͤttert, dieſe nicht niedergeblendet von dem tiefgefuͤhlten, und dennoch ohnmaͤchtigen, unertraͤglichfrechen, und dennoch kriechenden Blicke dieſer Verworfnen — ihnen ſo ins gebrannd- markte Angeſicht rief: „Heuchler! Weh Euch! Blinde Fuͤhrer! alles thun ſie, um von den „Leuten geſehen zu werden! Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht! Jnwendig ſeyd „ihr voll Gleißnerey und Ungerechtigkeit“ — — Aber nun das raſende Geſicht mit der Pelzmuͤtze, dem grimmigen falſchen Aug' und offenem Mund! Wie's unſinnig ſich zerarbeitet, dem Poͤbel Verbrechen der Unſchuld an den Fingern vorzuzaͤhlen! oder den volkaufwiegelnden Phariſaͤer noch mehr aufzuwiegeln, und ihn, wie ein Satan zu inſpiriren! wie's nur keine Spur mehr von Religion zeigt! Nicht mehr heucheln will und kann! wozu heucheln? Er heult, wie ein Hund und duͤrſtet nach Blut! nach Blut vom Creuze des Nazareners! — Neben

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/122>, abgerufen am 22.11.2024.