Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
dergleichen es noch manche geben dürfte, weil ich unter dem Nachdenken: wo etwa jedes, was ge-
sagt werden sollte, hingehören möchte, nur allzuleicht diesen oder jenen mir wichtig scheinenden
Gedanken gänzlich vergessen könnte.

Also wieder auf Rembranden zurück. Jch denke nicht, daß seine Gesichter in dem
Stücke, das wir vor uns haben, unter der Menschlichkeit und Wahrheit seyn. Jch glaube,
daß wenn es Menschen gäbe, die noch schlimmer wären, als die wider Jesum rasenden Pha-
risäer
und Sadducäer, daß sie noch weit schlimmer, als diese aussehen würden; und ich se-
he mich leider! genöthiget, zu glauben, daß es heut zu Tage noch wenigstens eben so schlimme
Menschen giebt, die eben das, vielleicht noch etwas ärgers als das zu thun im Stande wären,
was diese gethan haben.

Aber auch dieß nun bey Seite gesetzt -- Schau nun, lieber Leser, die Gesichter dieses
Stücks an! Sie mögen vielleicht in der Copie gewonnen oder verlohren haben. -- Schau die
an, die hier vor dir liegen, und empfind und urtheile! -- Nicht über das Christus-Gesicht --
das wollen wir nun unbeurtheilt lassen; so trefflich uns zu unserer Absicht ein glücklicher Kon-
trast zu statten gekommen wäre -- Raphaelen gelang kein Christus-Gesicht ganz, was wird
in diesem Stücke von Rembranden zu erwarten seyn? -- Also nur die übrigen Gesichter!
Welches unter allen gefällt dir? welchem willst du dich anvertrauen? welches um seine
Freundschaft bitten? welches empfiehlt sich dem besten oder schlechtesten Menschen durch sprechen-
de Redlichkeit -- empfindsame Güte? welches ist nicht verwildert? welches nicht in dem Gra-
de körperlich häßlich, in welchem sein Character moralisch häßlich zu seyn vermuthet wird?
Oder mit andern Worten: von welchem wirst du nicht nach dem Grade seiner Häßlichkeit,
Verdorbenheit seines Herzens vermuthen? --

Da wir keine lebendige Seele durch Commentirung schlechter Gesichter nach der Na-
tur zu beleidigen gedenken, und es doch theils zur Belehrung des Lesers, theils zur Veredlung
des Menschengeschlechts nicht ganz gleichgültig seyn dürfte, die Zeichen des Verfalls der
menschlichen Gestalt erkennbar zu machen, so will ichs versuchen, über diese und einige andere
Tafeln gottloser und lasterhafter Jdeale meine Gedanken etwas ausführlicher mitzutheilen.

Man

IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
dergleichen es noch manche geben duͤrfte, weil ich unter dem Nachdenken: wo etwa jedes, was ge-
ſagt werden ſollte, hingehoͤren moͤchte, nur allzuleicht dieſen oder jenen mir wichtig ſcheinenden
Gedanken gaͤnzlich vergeſſen koͤnnte.

Alſo wieder auf Rembranden zuruͤck. Jch denke nicht, daß ſeine Geſichter in dem
Stuͤcke, das wir vor uns haben, unter der Menſchlichkeit und Wahrheit ſeyn. Jch glaube,
daß wenn es Menſchen gaͤbe, die noch ſchlimmer waͤren, als die wider Jeſum raſenden Pha-
riſaͤer
und Sadducaͤer, daß ſie noch weit ſchlimmer, als dieſe ausſehen wuͤrden; und ich ſe-
he mich leider! genoͤthiget, zu glauben, daß es heut zu Tage noch wenigſtens eben ſo ſchlimme
Menſchen giebt, die eben das, vielleicht noch etwas aͤrgers als das zu thun im Stande waͤren,
was dieſe gethan haben.

Aber auch dieß nun bey Seite geſetzt — Schau nun, lieber Leſer, die Geſichter dieſes
Stuͤcks an! Sie moͤgen vielleicht in der Copie gewonnen oder verlohren haben. — Schau die
an, die hier vor dir liegen, und empfind und urtheile! — Nicht uͤber das Chriſtus-Geſicht —
das wollen wir nun unbeurtheilt laſſen; ſo trefflich uns zu unſerer Abſicht ein gluͤcklicher Kon-
traſt zu ſtatten gekommen waͤre — Raphaelen gelang kein Chriſtus-Geſicht ganz, was wird
in dieſem Stuͤcke von Rembranden zu erwarten ſeyn? — Alſo nur die uͤbrigen Geſichter!
Welches unter allen gefaͤllt dir? welchem willſt du dich anvertrauen? welches um ſeine
Freundſchaft bitten? welches empfiehlt ſich dem beſten oder ſchlechteſten Menſchen durch ſprechen-
de Redlichkeit — empfindſame Guͤte? welches iſt nicht verwildert? welches nicht in dem Gra-
de koͤrperlich haͤßlich, in welchem ſein Character moraliſch haͤßlich zu ſeyn vermuthet wird?
Oder mit andern Worten: von welchem wirſt du nicht nach dem Grade ſeiner Haͤßlichkeit,
Verdorbenheit ſeines Herzens vermuthen? —

Da wir keine lebendige Seele durch Commentirung ſchlechter Geſichter nach der Na-
tur zu beleidigen gedenken, und es doch theils zur Belehrung des Leſers, theils zur Veredlung
des Menſchengeſchlechts nicht ganz gleichguͤltig ſeyn duͤrfte, die Zeichen des Verfalls der
menſchlichen Geſtalt erkennbar zu machen, ſo will ichs verſuchen, uͤber dieſe und einige andere
Tafeln gottloſer und laſterhafter Jdeale meine Gedanken etwas ausfuͤhrlicher mitzutheilen.

Man
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0120" n="86"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi><hi rendition="#g">Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie</hi></hi></fw><lb/>
dergleichen es noch manche geben du&#x0364;rfte, weil ich unter dem Nachdenken: wo etwa jedes, was ge-<lb/>
&#x017F;agt werden &#x017F;ollte, hingeho&#x0364;ren mo&#x0364;chte, nur allzuleicht die&#x017F;en oder jenen mir wichtig &#x017F;cheinenden<lb/>
Gedanken ga&#x0364;nzlich verge&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnte.</p><lb/>
            <p>Al&#x017F;o wieder auf <hi rendition="#fr">Rembranden</hi> zuru&#x0364;ck. Jch denke nicht, daß &#x017F;eine Ge&#x017F;ichter in dem<lb/>
Stu&#x0364;cke, das wir vor uns haben, unter der Men&#x017F;chlichkeit und Wahrheit &#x017F;eyn. Jch glaube,<lb/>
daß wenn es Men&#x017F;chen ga&#x0364;be, die noch &#x017F;chlimmer wa&#x0364;ren, als die wider <hi rendition="#fr">Je&#x017F;um</hi> ra&#x017F;enden <hi rendition="#fr">Pha-<lb/>
ri&#x017F;a&#x0364;er</hi> und <hi rendition="#fr">Sadduca&#x0364;er,</hi> daß &#x017F;ie noch weit &#x017F;chlimmer, als die&#x017F;e aus&#x017F;ehen wu&#x0364;rden; und ich &#x017F;e-<lb/>
he mich leider! geno&#x0364;thiget, zu glauben, daß es heut zu Tage noch wenig&#x017F;tens eben &#x017F;o &#x017F;chlimme<lb/>
Men&#x017F;chen giebt, die eben das, vielleicht noch etwas a&#x0364;rgers als das zu thun im Stande wa&#x0364;ren,<lb/>
was die&#x017F;e gethan haben.</p><lb/>
            <p>Aber auch dieß nun bey Seite ge&#x017F;etzt &#x2014; Schau nun, lieber Le&#x017F;er, die Ge&#x017F;ichter die&#x017F;es<lb/>
Stu&#x0364;cks an! Sie mo&#x0364;gen vielleicht in der Copie gewonnen oder verlohren haben. &#x2014; Schau die<lb/>
an, die hier vor dir liegen, und empfind und urtheile! &#x2014; Nicht u&#x0364;ber das Chri&#x017F;tus-Ge&#x017F;icht &#x2014;<lb/>
das wollen wir nun unbeurtheilt la&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;o trefflich uns zu un&#x017F;erer Ab&#x017F;icht ein glu&#x0364;cklicher Kon-<lb/>
tra&#x017F;t zu &#x017F;tatten gekommen wa&#x0364;re &#x2014; <hi rendition="#fr">Raphaelen</hi> gelang kein Chri&#x017F;tus-Ge&#x017F;icht ganz, was wird<lb/>
in die&#x017F;em Stu&#x0364;cke von <hi rendition="#fr">Rembranden</hi> zu erwarten &#x017F;eyn? &#x2014; Al&#x017F;o nur die u&#x0364;brigen Ge&#x017F;ichter!<lb/>
Welches unter allen gefa&#x0364;llt dir? welchem will&#x017F;t du dich anvertrauen? welches um &#x017F;eine<lb/>
Freund&#x017F;chaft bitten? welches empfiehlt &#x017F;ich dem be&#x017F;ten oder &#x017F;chlechte&#x017F;ten Men&#x017F;chen durch &#x017F;prechen-<lb/>
de Redlichkeit &#x2014; empfind&#x017F;ame Gu&#x0364;te? welches i&#x017F;t nicht verwildert? welches nicht in dem Gra-<lb/>
de ko&#x0364;rperlich ha&#x0364;ßlich, in welchem &#x017F;ein Character morali&#x017F;ch ha&#x0364;ßlich zu &#x017F;eyn vermuthet wird?<lb/>
Oder mit andern Worten: von welchem wir&#x017F;t du nicht nach dem Grade &#x017F;einer Ha&#x0364;ßlichkeit,<lb/>
Verdorbenheit &#x017F;eines Herzens vermuthen? &#x2014;</p><lb/>
            <p>Da wir keine lebendige Seele durch Commentirung &#x017F;chlechter Ge&#x017F;ichter nach der Na-<lb/>
tur zu beleidigen gedenken, und es doch theils zur Belehrung des Le&#x017F;ers, theils zur Veredlung<lb/>
des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts nicht ganz gleichgu&#x0364;ltig &#x017F;eyn du&#x0364;rfte, die Zeichen des Verfalls der<lb/>
men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt erkennbar zu machen, &#x017F;o will ichs ver&#x017F;uchen, u&#x0364;ber die&#x017F;e und einige andere<lb/>
Tafeln gottlo&#x017F;er und la&#x017F;terhafter Jdeale meine Gedanken etwas ausfu&#x0364;hrlicher mitzutheilen.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Man</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0120] IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie dergleichen es noch manche geben duͤrfte, weil ich unter dem Nachdenken: wo etwa jedes, was ge- ſagt werden ſollte, hingehoͤren moͤchte, nur allzuleicht dieſen oder jenen mir wichtig ſcheinenden Gedanken gaͤnzlich vergeſſen koͤnnte. Alſo wieder auf Rembranden zuruͤck. Jch denke nicht, daß ſeine Geſichter in dem Stuͤcke, das wir vor uns haben, unter der Menſchlichkeit und Wahrheit ſeyn. Jch glaube, daß wenn es Menſchen gaͤbe, die noch ſchlimmer waͤren, als die wider Jeſum raſenden Pha- riſaͤer und Sadducaͤer, daß ſie noch weit ſchlimmer, als dieſe ausſehen wuͤrden; und ich ſe- he mich leider! genoͤthiget, zu glauben, daß es heut zu Tage noch wenigſtens eben ſo ſchlimme Menſchen giebt, die eben das, vielleicht noch etwas aͤrgers als das zu thun im Stande waͤren, was dieſe gethan haben. Aber auch dieß nun bey Seite geſetzt — Schau nun, lieber Leſer, die Geſichter dieſes Stuͤcks an! Sie moͤgen vielleicht in der Copie gewonnen oder verlohren haben. — Schau die an, die hier vor dir liegen, und empfind und urtheile! — Nicht uͤber das Chriſtus-Geſicht — das wollen wir nun unbeurtheilt laſſen; ſo trefflich uns zu unſerer Abſicht ein gluͤcklicher Kon- traſt zu ſtatten gekommen waͤre — Raphaelen gelang kein Chriſtus-Geſicht ganz, was wird in dieſem Stuͤcke von Rembranden zu erwarten ſeyn? — Alſo nur die uͤbrigen Geſichter! Welches unter allen gefaͤllt dir? welchem willſt du dich anvertrauen? welches um ſeine Freundſchaft bitten? welches empfiehlt ſich dem beſten oder ſchlechteſten Menſchen durch ſprechen- de Redlichkeit — empfindſame Guͤte? welches iſt nicht verwildert? welches nicht in dem Gra- de koͤrperlich haͤßlich, in welchem ſein Character moraliſch haͤßlich zu ſeyn vermuthet wird? Oder mit andern Worten: von welchem wirſt du nicht nach dem Grade ſeiner Haͤßlichkeit, Verdorbenheit ſeines Herzens vermuthen? — Da wir keine lebendige Seele durch Commentirung ſchlechter Geſichter nach der Na- tur zu beleidigen gedenken, und es doch theils zur Belehrung des Leſers, theils zur Veredlung des Menſchengeſchlechts nicht ganz gleichguͤltig ſeyn duͤrfte, die Zeichen des Verfalls der menſchlichen Geſtalt erkennbar zu machen, ſo will ichs verſuchen, uͤber dieſe und einige andere Tafeln gottloſer und laſterhafter Jdeale meine Gedanken etwas ausfuͤhrlicher mitzutheilen. Man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/120
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/120>, abgerufen am 24.11.2024.