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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VII.
geben kann oder giebt, daß es nicht deswegen sey, weil
es dieser Regel conform und gemäß ist. Der erhabenste
Mensch und der verstockteste Bösewicht können dem Ein-
druck eines Charakters, der diese Regel zu seinem Grund-
gesetz macht, gleich wenig widerstehen. Alles, was Sün-
de, Laster, Falschheit, Unredlichkeit, Undank,
Niederträchtigkeit
heißt -- ist's bloß deswegen, weil
es dieser Regel nicht conform ist. Sie ist Gesetz und
Propheten, Natur
und Gnade, Vernunft und
Offenbahrung, menschliche und göttliche Weis-
heit, Erde
und Himmel -- Moses und Christus
in Einem. Es kann nichts gesagt, nichts erdacht wer-
den, das drüber gienge. Sie lehrt alles thun, und
alles unterlassen, alles geniessen, alles missen; geben
und nehmen; arbeiten und ruhen; reden und schweigen;
herrschen und dienen -- wirken und auf sich wirken las-
sen. Noch einmal; Wer dieser Vorschrift folgen kann,
kann alles, was er können muß; Hat alles, was Er ha-
ben muß; Ist alles, was er seyn muß. Gott selber kann
ihn nicht vollkommner denken. Er ist sein vollkommenstes
Bild. Er ist die höchste Wirksamkeit die tiefste Duldsamkeit;
-- Er ist die Ordnung, die Gerechtigkeit, die Weisheit, die
Kraft, die Liebe selbst. Er ist der vollkommenste Gehorsam
-- der erhabenste Glaube. Er ist eine Gottheit in
Menschengestalt. Er ist unbeschreibliche Ehre für die
Menschheit, daß der Herr und Gesetzgeber und der größ-
te, oder vielmehr der einzige Kenner der Menschheit --
das von Ihr fordern darf. Diese Forderung drückt das
Siegel auf die Wahrheit -- die uns gleichsam allein Wahr-
heit seyn sollte, die der Schlüssel ist zu allen Geheimnis-

sen

Matthäus VII.
geben kann oder giebt, daß es nicht deswegen ſey, weil
es dieſer Regel conform und gemäß iſt. Der erhabenſte
Menſch und der verſtockteſte Böſewicht können dem Ein-
druck eines Charakters, der dieſe Regel zu ſeinem Grund-
geſetz macht, gleich wenig widerſtehen. Alles, was Sün-
de, Laſter, Falſchheit, Unredlichkeit, Undank,
Niederträchtigkeit
heißt — iſt’s bloß deswegen, weil
es dieſer Regel nicht conform iſt. Sie iſt Geſetz und
Propheten, Natur
und Gnade, Vernunft und
Offenbahrung, menſchliche und göttliche Weis-
heit, Erde
und Himmel — Moſes und Chriſtus
in Einem. Es kann nichts geſagt, nichts erdacht wer-
den, das drüber gienge. Sie lehrt alles thun, und
alles unterlaſſen, alles genieſſen, alles miſſen; geben
und nehmen; arbeiten und ruhen; reden und ſchweigen;
herrſchen und dienen — wirken und auf ſich wirken laſ-
ſen. Noch einmal; Wer dieſer Vorſchrift folgen kann,
kann alles, was er können muß; Hat alles, was Er ha-
ben muß; Iſt alles, was er ſeyn muß. Gott ſelber kann
ihn nicht vollkommner denken. Er iſt ſein vollkommenſtes
Bild. Er iſt die höchſte Wirkſamkeit die tiefſte Duldſamkeit;
— Er iſt die Ordnung, die Gerechtigkeit, die Weisheit, die
Kraft, die Liebe ſelbſt. Er iſt der vollkommenſte Gehorſam
— der erhabenſte Glaube. Er iſt eine Gottheit in
Menſchengeſtalt. Er iſt unbeſchreibliche Ehre für die
Menſchheit, daß der Herr und Geſetzgeber und der größ-
te, oder vielmehr der einzige Kenner der Menſchheit —
das von Ihr fordern darf. Dieſe Forderung drückt das
Siegel auf die Wahrheit — die uns gleichſam allein Wahr-
heit ſeyn ſollte, die der Schlüſſel iſt zu allen Geheimniſ-

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[54[74]/0082] Matthäus VII. geben kann oder giebt, daß es nicht deswegen ſey, weil es dieſer Regel conform und gemäß iſt. Der erhabenſte Menſch und der verſtockteſte Böſewicht können dem Ein- druck eines Charakters, der dieſe Regel zu ſeinem Grund- geſetz macht, gleich wenig widerſtehen. Alles, was Sün- de, Laſter, Falſchheit, Unredlichkeit, Undank, Niederträchtigkeit heißt — iſt’s bloß deswegen, weil es dieſer Regel nicht conform iſt. Sie iſt Geſetz und Propheten, Natur und Gnade, Vernunft und Offenbahrung, menſchliche und göttliche Weis- heit, Erde und Himmel — Moſes und Chriſtus in Einem. Es kann nichts geſagt, nichts erdacht wer- den, das drüber gienge. Sie lehrt alles thun, und alles unterlaſſen, alles genieſſen, alles miſſen; geben und nehmen; arbeiten und ruhen; reden und ſchweigen; herrſchen und dienen — wirken und auf ſich wirken laſ- ſen. Noch einmal; Wer dieſer Vorſchrift folgen kann, kann alles, was er können muß; Hat alles, was Er ha- ben muß; Iſt alles, was er ſeyn muß. Gott ſelber kann ihn nicht vollkommner denken. Er iſt ſein vollkommenſtes Bild. Er iſt die höchſte Wirkſamkeit die tiefſte Duldſamkeit; — Er iſt die Ordnung, die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Kraft, die Liebe ſelbſt. Er iſt der vollkommenſte Gehorſam — der erhabenſte Glaube. Er iſt eine Gottheit in Menſchengeſtalt. Er iſt unbeſchreibliche Ehre für die Menſchheit, daß der Herr und Geſetzgeber und der größ- te, oder vielmehr der einzige Kenner der Menſchheit — das von Ihr fordern darf. Dieſe Forderung drückt das Siegel auf die Wahrheit — die uns gleichſam allein Wahr- heit ſeyn ſollte, die der Schlüſſel iſt zu allen Geheimniſ- ſen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 54[74]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/82>, abgerufen am 04.09.2024.