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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VII.
auf Millionen Lippen schwebt, Gott weiß, ob in einem ein-
zigen Herzen festen Sitz und entscheidende Stimmen hat?
Wer ist weiser als alle Weisen? Der so diesen Grund-
satz zu seinem einzigen unverbrüchlichsten Grundsatz macht?
Wer ist gerechter als alle Gerechten? Redlicher, als
alle Redlichen? Stärker, als alle Starken -- dem diese
Regel einziges Prinzipium und Richtschnur seiner Hand-
lungen ist! Der Mensch wird einem Engel, einem Gotte
ähnlich, mögt' ich sagen, dem diese Regel heiliger ist,
als alles Heilige -- dem diese allein Religion und Tugend
ist -- Von dem ersten Menschen Jesus Christus herab
bis auf Judas Ischariot faßt sie alle und alles in sich,
was gegen alle gethan werden soll. Sie ist euere ganze
Weisheit, die beßte Staatskunst, Fürsten und Re-
genten, -- die beßte Erziehungskunst, Aeltern -- die
weiseste Lehrmethode, Lehrer! Nichts kann Brüderherzen
an Brüderherzen -- Freunde an Freunde -- Ehege-
nossen an Ehegenossen fester anknüpfen, als diese Re-
gel. Sie ist Herrscherin aller Gedanken, Gesinnun-
gen, Worte, Thaten. Sie ist Summ aller Weis-
heit und Liebe. Tief geschöpft aus dem allerheilig-
sten der menschlichen Herzen -- tief eindringend ihre
Befolgung ins Innerste, allerheiligste aller menschlichen
Herzen -- allverstanden von allen Menschen -- --
was ist, das der nicht könne, der dieser Vorschrift mit
Treu und Einfalt folgen kann -- der allerfolgsamste,
unterwürfigste, willenloseste -- wird er nicht der herr-
schendste, mächtigste seyn? Sich nicht alles, alles un-
terwerfen? Wie mehr wir für andern da sind, wie we-
niger wir für uns selber wollen und suchen, wie mehr

wir

Matthäus VII.
auf Millionen Lippen ſchwebt, Gott weiß, ob in einem ein-
zigen Herzen feſten Sitz und entſcheidende Stimmen hat?
Wer iſt weiſer als alle Weiſen? Der ſo dieſen Grund-
ſatz zu ſeinem einzigen unverbrüchlichſten Grundſatz macht?
Wer iſt gerechter als alle Gerechten? Redlicher, als
alle Redlichen? Stärker, als alle Starken — dem dieſe
Regel einziges Prinzipium und Richtſchnur ſeiner Hand-
lungen iſt! Der Menſch wird einem Engel, einem Gotte
ähnlich, mögt’ ich ſagen, dem dieſe Regel heiliger iſt,
als alles Heilige — dem dieſe allein Religion und Tugend
iſt — Von dem erſten Menſchen Jeſus Chriſtus herab
bis auf Judas Iſchariot faßt ſie alle und alles in ſich,
was gegen alle gethan werden ſoll. Sie iſt euere ganze
Weisheit, die beßte Staatskunſt, Fürſten und Re-
genten, — die beßte Erziehungskunſt, Aeltern — die
weiſeſte Lehrmethode, Lehrer! Nichts kann Brüderherzen
an Brüderherzen — Freunde an Freunde — Ehege-
noſſen an Ehegenoſſen feſter anknüpfen, als dieſe Re-
gel. Sie iſt Herrſcherin aller Gedanken, Geſinnun-
gen, Worte, Thaten. Sie iſt Summ aller Weis-
heit und Liebe. Tief geſchöpft aus dem allerheilig-
ſten der menſchlichen Herzen — tief eindringend ihre
Befolgung ins Innerſte, allerheiligſte aller menſchlichen
Herzen — allverſtanden von allen Menſchen — —
was iſt, das der nicht könne, der dieſer Vorſchrift mit
Treu und Einfalt folgen kann — der allerfolgſamſte,
unterwürfigſte, willenloſeſte — wird er nicht der herr-
ſchendſte, mächtigſte ſeyn? Sich nicht alles, alles un-
terwerfen? Wie mehr wir für andern da ſind, wie we-
niger wir für uns ſelber wollen und ſuchen, wie mehr

wir
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[52[72]/0080] Matthäus VII. auf Millionen Lippen ſchwebt, Gott weiß, ob in einem ein- zigen Herzen feſten Sitz und entſcheidende Stimmen hat? Wer iſt weiſer als alle Weiſen? Der ſo dieſen Grund- ſatz zu ſeinem einzigen unverbrüchlichſten Grundſatz macht? Wer iſt gerechter als alle Gerechten? Redlicher, als alle Redlichen? Stärker, als alle Starken — dem dieſe Regel einziges Prinzipium und Richtſchnur ſeiner Hand- lungen iſt! Der Menſch wird einem Engel, einem Gotte ähnlich, mögt’ ich ſagen, dem dieſe Regel heiliger iſt, als alles Heilige — dem dieſe allein Religion und Tugend iſt — Von dem erſten Menſchen Jeſus Chriſtus herab bis auf Judas Iſchariot faßt ſie alle und alles in ſich, was gegen alle gethan werden ſoll. Sie iſt euere ganze Weisheit, die beßte Staatskunſt, Fürſten und Re- genten, — die beßte Erziehungskunſt, Aeltern — die weiſeſte Lehrmethode, Lehrer! Nichts kann Brüderherzen an Brüderherzen — Freunde an Freunde — Ehege- noſſen an Ehegenoſſen feſter anknüpfen, als dieſe Re- gel. Sie iſt Herrſcherin aller Gedanken, Geſinnun- gen, Worte, Thaten. Sie iſt Summ aller Weis- heit und Liebe. Tief geſchöpft aus dem allerheilig- ſten der menſchlichen Herzen — tief eindringend ihre Befolgung ins Innerſte, allerheiligſte aller menſchlichen Herzen — allverſtanden von allen Menſchen — — was iſt, das der nicht könne, der dieſer Vorſchrift mit Treu und Einfalt folgen kann — der allerfolgſamſte, unterwürfigſte, willenloſeſte — wird er nicht der herr- ſchendſte, mächtigſte ſeyn? Sich nicht alles, alles un- terwerfen? Wie mehr wir für andern da ſind, wie we- niger wir für uns ſelber wollen und ſuchen, wie mehr wir

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 52[72]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/80>, abgerufen am 03.09.2024.