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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VII.
viel Trieb und Gabe zu richten haben -- Laßt uns diese
Gabe, diesen Trieb auf uns selber anwenden. An uns
selber laßt uns lernen -- einst, in jener Welt, wenn
1. Cor.
VI. 2.
die Heiligen die Welt richten werden, andere mit
Gerechtigkeit und Liebe zu richten.

46.
Heucheley.
Matth.
VII. 5.

Du Heuchler! zieh am ersten den Balken
aus deinem Auge; darnach besiehe, wie du den
Splitter aus deines Bruders Auge ausziehest.

Es ist ein sehr entscheidendes Merkmahl der Heucheley,
kleine Unvollkommenheiten anderer auszuheben und mit
der Miene der Bedenklichkeit dagegen loszuziehen und
wehzuklagen. Es läßt so gewissenhaft, so religiös, wenn
man sogar über geringe Fehler anderer mit ernster Miene
seufzen kann. -- Aber es ist größtentheils abscheuliche
Heucheley, die auch schon von mittelmäßigen Menschen-
kennern als solche gefühlt werden muß. Ein Splitter
in unserm Auge oder nahe an unserm Auge kommt uns na-
türlicher Weise so groß, und grösser als ein Balken in ei-
ner weiten Entfernung vor. So sollt' es mit unsern eig-
nen moralischen Fehlern, und den Fehlern des andern seyn.
Jene sollten uns so nahe vor unserm Gemüthe schweben
-- daß sie uns viel grösser schienen, als der andern, die wir
anders nicht, als in der weitern Entfernung anschen kön-
nen. -- Uebrigens ist nebenein gewiß: Wie grösser
uns unsre eignen Fehler vorkommen, desto klei-
ner schemen sie andern. Jeder Mensch ist in

dem

Matthäus VII.
viel Trieb und Gabe zu richten haben — Laßt uns dieſe
Gabe, dieſen Trieb auf uns ſelber anwenden. An uns
ſelber laßt uns lernen — einſt, in jener Welt, wenn
1. Cor.
VI. 2.
die Heiligen die Welt richten werden, andere mit
Gerechtigkeit und Liebe zu richten.

46.
Heucheley.
Matth.
VII. 5.

Du Heuchler! zieh am erſten den Balken
aus deinem Auge; darnach beſiehe, wie du den
Splitter aus deines Bruders Auge auszieheſt.

Es iſt ein ſehr entſcheidendes Merkmahl der Heucheley,
kleine Unvollkommenheiten anderer auszuheben und mit
der Miene der Bedenklichkeit dagegen loszuziehen und
wehzuklagen. Es läßt ſo gewiſſenhaft, ſo religiös, wenn
man ſogar über geringe Fehler anderer mit ernſter Miene
ſeufzen kann. — Aber es iſt größtentheils abſcheuliche
Heucheley, die auch ſchon von mittelmäßigen Menſchen-
kennern als ſolche gefühlt werden muß. Ein Splitter
in unſerm Auge oder nahe an unſerm Auge kommt uns na-
türlicher Weiſe ſo groß, und gröſſer als ein Balken in ei-
ner weiten Entfernung vor. So ſollt’ es mit unſern eig-
nen moraliſchen Fehlern, und den Fehlern des andern ſeyn.
Jene ſollten uns ſo nahe vor unſerm Gemüthe ſchweben
— daß ſie uns viel gröſſer ſchienen, als der andern, die wir
anders nicht, als in der weitern Entfernung anſchen kön-
nen. — Uebrigens iſt nebenein gewiß: Wie gröſſer
uns unſre eignen Fehler vorkommen, deſto klei-
ner ſchemen ſie andern. Jeder Menſch iſt in

dem
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[42[62]/0070] Matthäus VII. viel Trieb und Gabe zu richten haben — Laßt uns dieſe Gabe, dieſen Trieb auf uns ſelber anwenden. An uns ſelber laßt uns lernen — einſt, in jener Welt, wenn die Heiligen die Welt richten werden, andere mit Gerechtigkeit und Liebe zu richten. 1. Cor. VI. 2. 46. Heucheley. Du Heuchler! zieh am erſten den Balken aus deinem Auge; darnach beſiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge auszieheſt. Es iſt ein ſehr entſcheidendes Merkmahl der Heucheley, kleine Unvollkommenheiten anderer auszuheben und mit der Miene der Bedenklichkeit dagegen loszuziehen und wehzuklagen. Es läßt ſo gewiſſenhaft, ſo religiös, wenn man ſogar über geringe Fehler anderer mit ernſter Miene ſeufzen kann. — Aber es iſt größtentheils abſcheuliche Heucheley, die auch ſchon von mittelmäßigen Menſchen- kennern als ſolche gefühlt werden muß. Ein Splitter in unſerm Auge oder nahe an unſerm Auge kommt uns na- türlicher Weiſe ſo groß, und gröſſer als ein Balken in ei- ner weiten Entfernung vor. So ſollt’ es mit unſern eig- nen moraliſchen Fehlern, und den Fehlern des andern ſeyn. Jene ſollten uns ſo nahe vor unſerm Gemüthe ſchweben — daß ſie uns viel gröſſer ſchienen, als der andern, die wir anders nicht, als in der weitern Entfernung anſchen kön- nen. — Uebrigens iſt nebenein gewiß: Wie gröſſer uns unſre eignen Fehler vorkommen, deſto klei- ner ſchemen ſie andern. Jeder Menſch iſt in dem

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 42[62]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/70>, abgerufen am 03.09.2024.