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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXVI.
wirst du mich dreymahl verläugnen. Und gieng
hinaus und weynete bitterlich.

Wer von allen, die dieß lesen, hat über diese Ge-
schichte nicht schon beynahe alles gehört, was darüber
gesagt werden kann? Was sollen wir hier sagen, das
Wirkung und Kraft habe?

Von wie mancher Seite läßt sich diese Begebenheit
betrachten und benutzen? -- Sie ist die Geschichte der
größten Schwäche und der ehrlichsten Treuherzigkeit. So
ehrlich wie möglich, und so schwach wie möglich war
Petrus. Er ist das Bild, der Heerführer, möcht' ich
sagen, der besten und der treulosesten Menschen in einer
Person. Alle, die den einem Moment alles, was sie
haben, Leib und Leben für Christum und Christenthum,
für ihre Hausgenossen und Freunde hingäben -- und
den andern Augenblick, so kalt, so gefühllos, so schwach,
so treulos sind, daß man nicht mehr denselben Menschen
vor sich zu sehen, sich bereden kann, sehen in Petrus
ihr leibhaftiges Bild. -- Jesus sollte in eigner mensch-
licher Person nicht nur alle Leiden der Menschheit, alle
Bedrückungen, deren die menschliche Natur fähig wäre,
erfahren, sondern auch, weil Er selbst von aller sitt-
lichen Schwachheit srey war, durch andre, die ihm so
nahe waren, und so nahe kommen sollten, wie möglich,
die sittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen
aller Art, ihr Entstehen, ihren Gang und ihr Wachs-
thum so unmittelbar erkennen, erfahren -- und so un-
mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die
menschliche Schwachheit sollte Ihm in allen möglichen

Gestal-

Matthäus XXVI.
wirſt du mich dreymahl verläugnen. Und gieng
hinaus und weynete bitterlich.

Wer von allen, die dieß leſen, hat über dieſe Ge-
ſchichte nicht ſchon beynahe alles gehört, was darüber
geſagt werden kann? Was ſollen wir hier ſagen, das
Wirkung und Kraft habe?

Von wie mancher Seite läßt ſich dieſe Begebenheit
betrachten und benutzen? — Sie iſt die Geſchichte der
größten Schwäche und der ehrlichſten Treuherzigkeit. So
ehrlich wie möglich, und ſo ſchwach wie möglich war
Petrus. Er iſt das Bild, der Heerführer, möcht’ ich
ſagen, der beſten und der treuloſeſten Menſchen in einer
Perſon. Alle, die den einem Moment alles, was ſie
haben, Leib und Leben für Chriſtum und Chriſtenthum,
für ihre Hausgenoſſen und Freunde hingäben — und
den andern Augenblick, ſo kalt, ſo gefühllos, ſo ſchwach,
ſo treulos ſind, daß man nicht mehr denſelben Menſchen
vor ſich zu ſehen, ſich bereden kann, ſehen in Petrus
ihr leibhaftiges Bild. — Jeſus ſollte in eigner menſch-
licher Perſon nicht nur alle Leiden der Menſchheit, alle
Bedrückungen, deren die menſchliche Natur fähig wäre,
erfahren, ſondern auch, weil Er ſelbſt von aller ſitt-
lichen Schwachheit ſrey war, durch andre, die ihm ſo
nahe waren, und ſo nahe kommen ſollten, wie möglich,
die ſittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen
aller Art, ihr Entſtehen, ihren Gang und ihr Wachs-
thum ſo unmittelbar erkennen, erfahren — und ſo un-
mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die
menſchliche Schwachheit ſollte Ihm in allen möglichen

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[492[512]/0520] Matthäus XXVI. wirſt du mich dreymahl verläugnen. Und gieng hinaus und weynete bitterlich. Wer von allen, die dieß leſen, hat über dieſe Ge- ſchichte nicht ſchon beynahe alles gehört, was darüber geſagt werden kann? Was ſollen wir hier ſagen, das Wirkung und Kraft habe? Von wie mancher Seite läßt ſich dieſe Begebenheit betrachten und benutzen? — Sie iſt die Geſchichte der größten Schwäche und der ehrlichſten Treuherzigkeit. So ehrlich wie möglich, und ſo ſchwach wie möglich war Petrus. Er iſt das Bild, der Heerführer, möcht’ ich ſagen, der beſten und der treuloſeſten Menſchen in einer Perſon. Alle, die den einem Moment alles, was ſie haben, Leib und Leben für Chriſtum und Chriſtenthum, für ihre Hausgenoſſen und Freunde hingäben — und den andern Augenblick, ſo kalt, ſo gefühllos, ſo ſchwach, ſo treulos ſind, daß man nicht mehr denſelben Menſchen vor ſich zu ſehen, ſich bereden kann, ſehen in Petrus ihr leibhaftiges Bild. — Jeſus ſollte in eigner menſch- licher Perſon nicht nur alle Leiden der Menſchheit, alle Bedrückungen, deren die menſchliche Natur fähig wäre, erfahren, ſondern auch, weil Er ſelbſt von aller ſitt- lichen Schwachheit ſrey war, durch andre, die ihm ſo nahe waren, und ſo nahe kommen ſollten, wie möglich, die ſittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen aller Art, ihr Entſtehen, ihren Gang und ihr Wachs- thum ſo unmittelbar erkennen, erfahren — und ſo un- mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die menſchliche Schwachheit ſollte Ihm in allen möglichen Geſtal-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 492[512]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/520>, abgerufen am 24.11.2024.