Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite
Unausbleibliche Zerstörung Jerusalems.

Das historische Licht über diese Stellen giebt uns
Josephus im fünften und sechsten Buche vom jüdischen
Kriege. Nach unzähligen vorhergegangenen Unruhen,
Verwirrungen, Elend und Jammer, womit das ganze
Land wie überschwemmt war, belagerte im Jahr 70 der
christlichen Zeitrechnung Titus, der Sohn des römischen
Kaisers Vespasians, mit einem zahlreichen Krieges-
heere die Stadt Jerusalem, eroberte und schleifte sie
mit dem Tempel, ungeachtet des langen wütenden Wi-
derstandes der Belagerten, die alle schonenden Anerbie-
tungen Titus mit der unbegreiflichsten Verblendung
ausschlugen, und ihn dadurch zu der Verwüstung nö-
thigten, deren er immer so gern zuvorkommen wollte.

Erwartet, will Jesus sagen, erwartet keine Er-
rettung mehr. Nun ihr Stadt und Tempel einmal be-
lagert sehet. Verweilet keinen Augenblick länger in der
Hoffnung, der Meßias, oder irgend ein anderer Be-
freyer werde erscheinen. Nein -- es sind die Tage der
Rache! Es muß, es wird alles erfüllet werden, was
davon geschrieben ist. Die schleunigste Flucht ist das
einzige Rettungsmittel. In jedem Momente Verzöge-
rung ist Lebensgefahr.

Wehe den Schwangern und Säugenden!
Ein Wort, für das ich dem Herrn mit Thränen des
Dankes die Füße küssen mögte. Wie milde, wie zärt-
lich, wie gerührt und wie rührend! Nicht kalt und hart
blickt Er auf den Jammer des Gerichtes, der über Je-
rusalem kommen sollte. Er nimmt Antheil am Leiden
der Leidenden. Es sind Menschen, welche leiden --

und
B b 5
Unausbleibliche Zerſtörung Jeruſalems.

Das hiſtoriſche Licht über dieſe Stellen giebt uns
Joſephus im fünften und ſechſten Buche vom jüdiſchen
Kriege. Nach unzähligen vorhergegangenen Unruhen,
Verwirrungen, Elend und Jammer, womit das ganze
Land wie überſchwemmt war, belagerte im Jahr 70 der
chriſtlichen Zeitrechnung Titus, der Sohn des römiſchen
Kaiſers Veſpaſians, mit einem zahlreichen Krieges-
heere die Stadt Jeruſalem, eroberte und ſchleifte ſie
mit dem Tempel, ungeachtet des langen wütenden Wi-
derſtandes der Belagerten, die alle ſchonenden Anerbie-
tungen Titus mit der unbegreiflichſten Verblendung
ausſchlugen, und ihn dadurch zu der Verwüſtung nö-
thigten, deren er immer ſo gern zuvorkommen wollte.

Erwartet, will Jeſus ſagen, erwartet keine Er-
rettung mehr. Nun ihr Stadt und Tempel einmal be-
lagert ſehet. Verweilet keinen Augenblick länger in der
Hoffnung, der Meßias, oder irgend ein anderer Be-
freyer werde erſcheinen. Nein — es ſind die Tage der
Rache! Es muß, es wird alles erfüllet werden, was
davon geſchrieben iſt. Die ſchleunigſte Flucht iſt das
einzige Rettungsmittel. In jedem Momente Verzöge-
rung iſt Lebensgefahr.

Wehe den Schwangern und Säugenden!
Ein Wort, für das ich dem Herrn mit Thränen des
Dankes die Füße küſſen mögte. Wie milde, wie zärt-
lich, wie gerührt und wie rührend! Nicht kalt und hart
blickt Er auf den Jammer des Gerichtes, der über Je-
ruſalem kommen ſollte. Er nimmt Antheil am Leiden
der Leidenden. Es ſind Menſchen, welche leiden —

und
B b 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0421" n="393[413]"/>
            <fw place="top" type="header">Unausbleibliche Zer&#x017F;törung Jeru&#x017F;alems.</fw><lb/>
            <p>Das hi&#x017F;tori&#x017F;che Licht über die&#x017F;e Stellen giebt uns<lb/><hi rendition="#fr">Jo&#x017F;ephus</hi> im fünften und &#x017F;ech&#x017F;ten Buche vom jüdi&#x017F;chen<lb/>
Kriege. Nach unzähligen vorhergegangenen Unruhen,<lb/>
Verwirrungen, Elend und Jammer, womit das ganze<lb/>
Land wie über&#x017F;chwemmt war, belagerte im Jahr 70 der<lb/>
chri&#x017F;tlichen Zeitrechnung <hi rendition="#fr">Titus,</hi> der Sohn des römi&#x017F;chen<lb/>
Kai&#x017F;ers <hi rendition="#fr">Ve&#x017F;pa&#x017F;ians,</hi> mit einem zahlreichen Krieges-<lb/>
heere die Stadt Jeru&#x017F;alem, eroberte und &#x017F;chleifte &#x017F;ie<lb/>
mit dem Tempel, ungeachtet des langen wütenden Wi-<lb/>
der&#x017F;tandes der Belagerten, die alle &#x017F;chonenden Anerbie-<lb/>
tungen <hi rendition="#fr">Titus</hi> mit der unbegreiflich&#x017F;ten Verblendung<lb/>
aus&#x017F;chlugen, und ihn dadurch zu der Verwü&#x017F;tung nö-<lb/>
thigten, deren er immer &#x017F;o gern zuvorkommen wollte.</p><lb/>
            <p>Erwartet, will <hi rendition="#fr">Je&#x017F;us</hi> &#x017F;agen, erwartet keine Er-<lb/>
rettung mehr. Nun ihr Stadt und Tempel einmal be-<lb/>
lagert &#x017F;ehet. Verweilet keinen Augenblick länger in der<lb/>
Hoffnung, der Meßias, oder irgend ein anderer Be-<lb/>
freyer werde er&#x017F;cheinen. Nein &#x2014; es &#x017F;ind die Tage der<lb/>
Rache! Es muß, es wird alles erfüllet werden, was<lb/>
davon ge&#x017F;chrieben i&#x017F;t. Die &#x017F;chleunig&#x017F;te Flucht i&#x017F;t das<lb/>
einzige Rettungsmittel. In jedem Momente Verzöge-<lb/>
rung i&#x017F;t Lebensgefahr.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Wehe den Schwangern und Säugenden!</hi><lb/>
Ein Wort, für das ich dem Herrn mit Thränen des<lb/>
Dankes die Füße kü&#x017F;&#x017F;en mögte. Wie milde, wie zärt-<lb/>
lich, wie gerührt und wie rührend! Nicht kalt und hart<lb/>
blickt Er auf den Jammer des Gerichtes, der über Je-<lb/>
ru&#x017F;alem kommen &#x017F;ollte. Er nimmt Antheil am Leiden<lb/>
der Leidenden. Es &#x017F;ind Men&#x017F;chen, welche leiden &#x2014;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B b 5</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[393[413]/0421] Unausbleibliche Zerſtörung Jeruſalems. Das hiſtoriſche Licht über dieſe Stellen giebt uns Joſephus im fünften und ſechſten Buche vom jüdiſchen Kriege. Nach unzähligen vorhergegangenen Unruhen, Verwirrungen, Elend und Jammer, womit das ganze Land wie überſchwemmt war, belagerte im Jahr 70 der chriſtlichen Zeitrechnung Titus, der Sohn des römiſchen Kaiſers Veſpaſians, mit einem zahlreichen Krieges- heere die Stadt Jeruſalem, eroberte und ſchleifte ſie mit dem Tempel, ungeachtet des langen wütenden Wi- derſtandes der Belagerten, die alle ſchonenden Anerbie- tungen Titus mit der unbegreiflichſten Verblendung ausſchlugen, und ihn dadurch zu der Verwüſtung nö- thigten, deren er immer ſo gern zuvorkommen wollte. Erwartet, will Jeſus ſagen, erwartet keine Er- rettung mehr. Nun ihr Stadt und Tempel einmal be- lagert ſehet. Verweilet keinen Augenblick länger in der Hoffnung, der Meßias, oder irgend ein anderer Be- freyer werde erſcheinen. Nein — es ſind die Tage der Rache! Es muß, es wird alles erfüllet werden, was davon geſchrieben iſt. Die ſchleunigſte Flucht iſt das einzige Rettungsmittel. In jedem Momente Verzöge- rung iſt Lebensgefahr. Wehe den Schwangern und Säugenden! Ein Wort, für das ich dem Herrn mit Thränen des Dankes die Füße küſſen mögte. Wie milde, wie zärt- lich, wie gerührt und wie rührend! Nicht kalt und hart blickt Er auf den Jammer des Gerichtes, der über Je- ruſalem kommen ſollte. Er nimmt Antheil am Leiden der Leidenden. Es ſind Menſchen, welche leiden — und B b 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/421
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 393[413]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/421>, abgerufen am 22.11.2024.