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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXIII.
desten Vorwurf, dem zählt Er seine Sünden nicht sira-
fend vor -- deckte alles zu, vergaß alles -- vergab al-
les -- gab ihm alles, was er wünschte, was seine leise-
ste Sehnsucht zu wünschen sich nicht erkühnte. Das
schärfste, was Er ihm etwa sagte, und nicht sagte, bis
Er ihm vergeben und geholfen hatte, war: Sündige
hinfort nicht mehr, damit dir nicht etwas ärgers
widerfahre
-- Auf Grösse, Menge, Abscheulichkeit
der Sünde kam's Ihm nicht an -- nur aufs ehrliche
Bekennen und Bereuen der Sünde -- nur auf Erret-
tungsdurst und auf Zutrauen zu Seiner rettenden, hei-
lenden Kraft und Liebe. Wem viel vergeben ist,
der liebet viel;
Sagte Er, wenn grosse Sünder zu
Ihm kamen -- und ein selbstgerechter Pharisäer Sei-
ner Schonung Vorwürfe machte. Er war Arzt der
Kranken -- nicht da, ihnen Vorwürfe zu machen, daß
sie krank seyn, sondern sie von ihrer Krankheit zu hei-
len. Die Krankheit mochte so selbst verschuldet, so
tief, so gefährlich, so unheilbar seyn, wie sie wollte --
fühlte der Kranke nur, daß er krank sey; Wünschte
er nur gesund zu werden und glaubte an seinen Arzt, so
war alles richtig. Leset die ganze evangelische Geschichte
-- kein einziges Beyspiel werdet ihr finden, daß Jesus
je hart und strenge war gegen einen Sünder, der em-
pfand, was er war, und aufrichtig bekannte, was er
war. Nein, wie ein Hirt sich freuet seines wiederge-
fundenen Schaafes, so freute Er sich einer Sünder-
seele, die sich reuvoll zu Ihm wandte, und aus Sei-
nem Herzen stieg die Freude zu Seinen Engeln hinauf.

Laß

Matthäus XXIII.
deſten Vorwurf, dem zählt Er ſeine Sünden nicht ſira-
fend vor — deckte alles zu, vergaß alles — vergab al-
les — gab ihm alles, was er wünſchte, was ſeine leiſe-
ſte Sehnſucht zu wünſchen ſich nicht erkühnte. Das
ſchärfſte, was Er ihm etwa ſagte, und nicht ſagte, bis
Er ihm vergeben und geholfen hatte, war: Sündige
hinfort nicht mehr, damit dir nicht etwas ärgers
widerfahre
— Auf Gröſſe, Menge, Abſcheulichkeit
der Sünde kam’s Ihm nicht an — nur aufs ehrliche
Bekennen und Bereuen der Sünde — nur auf Erret-
tungsdurſt und auf Zutrauen zu Seiner rettenden, hei-
lenden Kraft und Liebe. Wem viel vergeben iſt,
der liebet viel;
Sagte Er, wenn groſſe Sünder zu
Ihm kamen — und ein ſelbſtgerechter Phariſäer Sei-
ner Schonung Vorwürfe machte. Er war Arzt der
Kranken — nicht da, ihnen Vorwürfe zu machen, daß
ſie krank ſeyn, ſondern ſie von ihrer Krankheit zu hei-
len. Die Krankheit mochte ſo ſelbſt verſchuldet, ſo
tief, ſo gefährlich, ſo unheilbar ſeyn, wie ſie wollte —
fühlte der Kranke nur, daß er krank ſey; Wünſchte
er nur geſund zu werden und glaubte an ſeinen Arzt, ſo
war alles richtig. Leſet die ganze evangeliſche Geſchichte
— kein einziges Beyſpiel werdet ihr finden, daß Jeſus
je hart und ſtrenge war gegen einen Sünder, der em-
pfand, was er war, und aufrichtig bekannte, was er
war. Nein, wie ein Hirt ſich freuet ſeines wiederge-
fundenen Schaafes, ſo freute Er ſich einer Sünder-
ſeele, die ſich reuvoll zu Ihm wandte, und aus Sei-
nem Herzen ſtieg die Freude zu Seinen Engeln hinauf.

Laß
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[378[398]/0406] Matthäus XXIII. deſten Vorwurf, dem zählt Er ſeine Sünden nicht ſira- fend vor — deckte alles zu, vergaß alles — vergab al- les — gab ihm alles, was er wünſchte, was ſeine leiſe- ſte Sehnſucht zu wünſchen ſich nicht erkühnte. Das ſchärfſte, was Er ihm etwa ſagte, und nicht ſagte, bis Er ihm vergeben und geholfen hatte, war: Sündige hinfort nicht mehr, damit dir nicht etwas ärgers widerfahre — Auf Gröſſe, Menge, Abſcheulichkeit der Sünde kam’s Ihm nicht an — nur aufs ehrliche Bekennen und Bereuen der Sünde — nur auf Erret- tungsdurſt und auf Zutrauen zu Seiner rettenden, hei- lenden Kraft und Liebe. Wem viel vergeben iſt, der liebet viel; Sagte Er, wenn groſſe Sünder zu Ihm kamen — und ein ſelbſtgerechter Phariſäer Sei- ner Schonung Vorwürfe machte. Er war Arzt der Kranken — nicht da, ihnen Vorwürfe zu machen, daß ſie krank ſeyn, ſondern ſie von ihrer Krankheit zu hei- len. Die Krankheit mochte ſo ſelbſt verſchuldet, ſo tief, ſo gefährlich, ſo unheilbar ſeyn, wie ſie wollte — fühlte der Kranke nur, daß er krank ſey; Wünſchte er nur geſund zu werden und glaubte an ſeinen Arzt, ſo war alles richtig. Leſet die ganze evangeliſche Geſchichte — kein einziges Beyſpiel werdet ihr finden, daß Jeſus je hart und ſtrenge war gegen einen Sünder, der em- pfand, was er war, und aufrichtig bekannte, was er war. Nein, wie ein Hirt ſich freuet ſeines wiederge- fundenen Schaafes, ſo freute Er ſich einer Sünder- ſeele, die ſich reuvoll zu Ihm wandte, und aus Sei- nem Herzen ſtieg die Freude zu Seinen Engeln hinauf. Laß

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 378[398]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/406>, abgerufen am 23.11.2024.