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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Wehmuth Christus über unverbesserl. etc.
tief versunken in Lüge und Unrecht, in Elend und Jam-
mer traf Er sie an -- Ich bin ihr Arzt und Retter --
so fühlt' sein liebendes Herz -- und Er eilte, ihr Arzt
und Retter zu seyn; Rufte, lockte sie mit der milde-
sten Bruder- und Freundesstimme zu sich, unter Sei-
nen Machtschutz, zu Seinem Frieden, Seinen Freu-
den -- wie eine Henne bey obschwebender Gefahr ihre
zerstreuten Jungen lockt mit der wohlbekannten mütter-
lichen Stimme und breitet ihre Flügel über sie aus, und
lässet lieber ihr Leben, als daß Einem von allen ein Un-
fall begegne. So rufte, so lockte Jesus Jerusalems
Kinder drey Jahre -- drey Jahre zeigt Er ihnen Sein
zärtliches Herz und Seinen mächtigen Arm -- und streckte
seine rettenden Hände nach ihnen aus Tags und Nachts
-- aber sie wollten nicht. Sie wollten's nicht gesche-
hen lassen die Väter und Führer der unglücklichen, ver-
irreten Kinder -- wollten selbst nicht hingehen zu dem,
der so milde so freundlich sie rufte, und wollten auch
ihre Kinder nicht hingehen lassen -- lieber mit ihnen in
der Irre bleiben, als zum treusten Hirten, dessen die
beßten Auen sind, zurückkehren -- lieber mit ihnen an
selbstgegrabenen Sodbrünnen verschmachten, als vom of-
fenen, ihnen selbst entgegen kommenden Brunnen lebendi-
gen Wassers sich gesund und satt trinken. Wem die Hirten-
stimme rief, wer in Seinen Schooß umkehren wollte, den
rissen sie grausam zurück, und ketteten ihn härter an Fin-
sterniß und trostlosen Jammer. Sie schlossen das
Himmelreich vor den Menschen zu, giengen selbst
nicht hinein, und die, welche hineingehen woll-

ten,
A a 3

Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerl. ꝛc.
tief verſunken in Lüge und Unrecht, in Elend und Jam-
mer traf Er ſie an — Ich bin ihr Arzt und Retter —
ſo fühlt’ ſein liebendes Herz — und Er eilte, ihr Arzt
und Retter zu ſeyn; Rufte, lockte ſie mit der milde-
ſten Bruder- und Freundesſtimme zu ſich, unter Sei-
nen Machtſchutz, zu Seinem Frieden, Seinen Freu-
den — wie eine Henne bey obſchwebender Gefahr ihre
zerſtreuten Jungen lockt mit der wohlbekannten mütter-
lichen Stimme und breitet ihre Flügel über ſie aus, und
läſſet lieber ihr Leben, als daß Einem von allen ein Un-
fall begegne. So rufte, ſo lockte Jeſus Jeruſalems
Kinder drey Jahre — drey Jahre zeigt Er ihnen Sein
zärtliches Herz und Seinen mächtigen Arm — und ſtreckte
ſeine rettenden Hände nach ihnen aus Tags und Nachts
— aber ſie wollten nicht. Sie wollten’s nicht geſche-
hen laſſen die Väter und Führer der unglücklichen, ver-
irreten Kinder — wollten ſelbſt nicht hingehen zu dem,
der ſo milde ſo freundlich ſie rufte, und wollten auch
ihre Kinder nicht hingehen laſſen — lieber mit ihnen in
der Irre bleiben, als zum treuſten Hirten, deſſen die
beßten Auen ſind, zurückkehren — lieber mit ihnen an
ſelbſtgegrabenen Sodbrünnen verſchmachten, als vom of-
fenen, ihnen ſelbſt entgegen kommenden Brunnen lebendi-
gen Waſſers ſich geſund und ſatt trinken. Wem die Hirten-
ſtimme rief, wer in Seinen Schooß umkehren wollte, den
riſſen ſie grauſam zurück, und ketteten ihn härter an Fin-
ſterniß und troſtloſen Jammer. Sie ſchloſſen das
Himmelreich vor den Menſchen zu, giengen ſelbſt
nicht hinein, und die, welche hineingehen woll-

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[373[393]/0401] Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerl. ꝛc. tief verſunken in Lüge und Unrecht, in Elend und Jam- mer traf Er ſie an — Ich bin ihr Arzt und Retter — ſo fühlt’ ſein liebendes Herz — und Er eilte, ihr Arzt und Retter zu ſeyn; Rufte, lockte ſie mit der milde- ſten Bruder- und Freundesſtimme zu ſich, unter Sei- nen Machtſchutz, zu Seinem Frieden, Seinen Freu- den — wie eine Henne bey obſchwebender Gefahr ihre zerſtreuten Jungen lockt mit der wohlbekannten mütter- lichen Stimme und breitet ihre Flügel über ſie aus, und läſſet lieber ihr Leben, als daß Einem von allen ein Un- fall begegne. So rufte, ſo lockte Jeſus Jeruſalems Kinder drey Jahre — drey Jahre zeigt Er ihnen Sein zärtliches Herz und Seinen mächtigen Arm — und ſtreckte ſeine rettenden Hände nach ihnen aus Tags und Nachts — aber ſie wollten nicht. Sie wollten’s nicht geſche- hen laſſen die Väter und Führer der unglücklichen, ver- irreten Kinder — wollten ſelbſt nicht hingehen zu dem, der ſo milde ſo freundlich ſie rufte, und wollten auch ihre Kinder nicht hingehen laſſen — lieber mit ihnen in der Irre bleiben, als zum treuſten Hirten, deſſen die beßten Auen ſind, zurückkehren — lieber mit ihnen an ſelbſtgegrabenen Sodbrünnen verſchmachten, als vom of- fenen, ihnen ſelbſt entgegen kommenden Brunnen lebendi- gen Waſſers ſich geſund und ſatt trinken. Wem die Hirten- ſtimme rief, wer in Seinen Schooß umkehren wollte, den riſſen ſie grauſam zurück, und ketteten ihn härter an Fin- ſterniß und troſtloſen Jammer. Sie ſchloſſen das Himmelreich vor den Menſchen zu, giengen ſelbſt nicht hinein, und die, welche hineingehen woll- ten, A a 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 373[393]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/401>, abgerufen am 23.11.2024.