175. Wehmuth Christus über unverbesserliche Menschen.
Matth. XXIII. 37.
Jerusalem! Jerusalem! Die du die Prophe- ten tödtest und die, welche zu dir gesendet wer- Luc. XIII. 34.den, versteinigest -- wie oft habe Ich deine Kin- der versammeln wollen, welcher Maassen eine Henne ihre Jungen unter die Flügel versammelt -- und Ihr habet nicht gewollt.
Wer kann diese Klage der innigsten Wehmuth oh- ne tiefe Rührung, ohne Thränen lesen! O du ewige, unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver- mag dich würdig zu empfinden! O du treuster Hirt -- So liegt dir das Verlohrne am Herzen, so suchest du es, so weinest und traurest du, wenn's vor dir fliehet, wenn's deine Hirtenstimme nicht mehr kennen will!
Jerusalem -- die Stadt des lebendigen Gottes! Und ach, die Prophetenmörderin -- die Gottesverges- senste aller Städte! Die Erwählte, die sich selber ver- warf, sich dem aus den Händen rang, der sie erwählet hatte -- die den größten Gottesseegen, nach welchem Propheten und Gerechte sich von jeher gesehnet hatten, von sich stieß -- ans Creutz anheftete den Heiligsten Gottes, den Ersten und Letzten aller Propheten und Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder Blick des Herrn auf diese zu der erhabensten Ehre er- wählte, die erhabenste Ehre in unauslöschliche Schan- de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott,
tief
Matthäus XXIII.
175. Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerliche Menſchen.
Matth. XXIII. 37.
Jeruſalem! Jeruſalem! Die du die Prophe- ten tödteſt und die, welche zu dir geſendet wer- Luc. XIII. 34.den, verſteinigeſt — wie oft habe Ich deine Kin- der verſammeln wollen, welcher Maaſſen eine Henne ihre Jungen unter die Flügel verſammelt — und Ihr habet nicht gewollt.
Wer kann dieſe Klage der innigſten Wehmuth oh- ne tiefe Rührung, ohne Thränen leſen! O du ewige, unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver- mag dich würdig zu empfinden! O du treuſter Hirt — So liegt dir das Verlohrne am Herzen, ſo ſucheſt du es, ſo weineſt und traureſt du, wenn’s vor dir fliehet, wenn’s deine Hirtenſtimme nicht mehr kennen will!
Jeruſalem — die Stadt des lebendigen Gottes! Und ach, die Prophetenmörderin — die Gottesvergeſ- ſenſte aller Städte! Die Erwählte, die ſich ſelber ver- warf, ſich dem aus den Händen rang, der ſie erwählet hatte — die den größten Gottesſeegen, nach welchem Propheten und Gerechte ſich von jeher geſehnet hatten, von ſich ſtieß — ans Creutz anheftete den Heiligſten Gottes, den Erſten und Letzten aller Propheten und Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder Blick des Herrn auf dieſe zu der erhabenſten Ehre er- wählte, die erhabenſte Ehre in unauslöſchliche Schan- de verwandelnde Stadt. Weit entfernt von ihrem Gott,
tief
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[372[392]/0400]
Matthäus XXIII.
175.
Wehmuth Chriſtus über unverbeſſerliche
Menſchen.
Jeruſalem! Jeruſalem! Die du die Prophe-
ten tödteſt und die, welche zu dir geſendet wer-
den, verſteinigeſt — wie oft habe Ich deine Kin-
der verſammeln wollen, welcher Maaſſen eine
Henne ihre Jungen unter die Flügel verſammelt
— und Ihr habet nicht gewollt.
Luc. XIII.
34.
Wer kann dieſe Klage der innigſten Wehmuth oh-
ne tiefe Rührung, ohne Thränen leſen! O du ewige,
unergründliche Langmuth und Güte, welches Herz ver-
mag dich würdig zu empfinden! O du treuſter Hirt —
So liegt dir das Verlohrne am Herzen, ſo ſucheſt du
es, ſo weineſt und traureſt du, wenn’s vor dir fliehet,
wenn’s deine Hirtenſtimme nicht mehr kennen will!
Jeruſalem — die Stadt des lebendigen Gottes!
Und ach, die Prophetenmörderin — die Gottesvergeſ-
ſenſte aller Städte! Die Erwählte, die ſich ſelber ver-
warf, ſich dem aus den Händen rang, der ſie erwählet
hatte — die den größten Gottesſeegen, nach welchem
Propheten und Gerechte ſich von jeher geſehnet hatten,
von ſich ſtieß — ans Creutz anheftete den Heiligſten
Gottes, den Erſten und Letzten aller Propheten und
Gerechten. Innige Wehmuth war jeder Gedanke, jeder
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wählte, die erhabenſte Ehre in unauslöſchliche Schan-
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 372[392]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/400>, abgerufen am 23.11.2024.
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