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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Gerechte und willkührliche Belohnung.
Er will, und wem Er will -- ohne daß irgend ein
Wesen ein Recht hat, Ihn darüber zur Rede zu stel-
len, oder mit Ihm unzufrieden zu seyn.

7. Aus dieser Parabel aber folget gar nicht, daß
Gott nicht nach Gerechtigkeit, nach Verhältniß des Fleis-
ses und der Treue belohne. Keine Wahrheit kann mit
irgend einer andern Wahrheit im Widerspruche stehen.
Wahrheit ists: Gott ist frey und ungebunden in
der Austheilung seiner Gnaden.
Aber auch Wahr-
heit ists: Gott vergilt einem Jeden genau nach
seinen Werken. Wer reichlich säet, der wird
2. Cor. IX. 6
auch reichlich erndten; Wer sparsamlich, kärg-
lich säet, der wird auch kärglich erndten.
Dieß
scheint mit unsrer Parabel im Widerspruche zu stehen.
Ich sage: Scheint denn noch einmahl: Der Wahr-
heit kann keine Wahrheit widersprechen.
Wenn
wir auf den Geist, die Absicht der Parabel sehen, so ist
klar -- daß nach der strengsten Gerechtigkeit vergolten
wird. Die Ersten waren lohnsüchtig, die Letztern
zutrauensvoll. Mit den Ersten war der Hausvater
um einen Groschen übereingekommen. Man mußte mit
ihnen gleichsam einen Accord schliessen. Es müßte alles
bestimmt und verabredet werden. Die andern liessen
sich ohne Accord gefallen, zu arbeiten. Sie begnügten
sich mit dem blossen Worte des billigen Hausvaters: Was
recht seyn wird, das will Ich euch geben.
Liegt nun
in diesem edlen Sinn, diesem Zutrauen nicht mehr sitt-
liches Verdienst, als in dem allenfalls längerdaurenden,
knechtischen, lohnsüchtigen Arbeiten? Mich dünkt also:

Es
T 4

Gerechte und willkührliche Belohnung.
Er will, und wem Er will — ohne daß irgend ein
Weſen ein Recht hat, Ihn darüber zur Rede zu ſtel-
len, oder mit Ihm unzufrieden zu ſeyn.

7. Aus dieſer Parabel aber folget gar nicht, daß
Gott nicht nach Gerechtigkeit, nach Verhältniß des Fleiſ-
ſes und der Treue belohne. Keine Wahrheit kann mit
irgend einer andern Wahrheit im Widerſpruche ſtehen.
Wahrheit iſts: Gott iſt frey und ungebunden in
der Austheilung ſeiner Gnaden.
Aber auch Wahr-
heit iſts: Gott vergilt einem Jeden genau nach
ſeinen Werken. Wer reichlich ſäet, der wird
2. Cor. IX. 6
auch reichlich erndten; Wer ſparſamlich, kärg-
lich ſäet, der wird auch kärglich erndten.
Dieß
ſcheint mit unſrer Parabel im Widerſpruche zu ſtehen.
Ich ſage: Scheint denn noch einmahl: Der Wahr-
heit kann keine Wahrheit widerſprechen.
Wenn
wir auf den Geiſt, die Abſicht der Parabel ſehen, ſo iſt
klar — daß nach der ſtrengſten Gerechtigkeit vergolten
wird. Die Erſten waren lohnſüchtig, die Letztern
zutrauensvoll. Mit den Erſten war der Hausvater
um einen Groſchen übereingekommen. Man mußte mit
ihnen gleichſam einen Accord ſchlieſſen. Es müßte alles
beſtimmt und verabredet werden. Die andern lieſſen
ſich ohne Accord gefallen, zu arbeiten. Sie begnügten
ſich mit dem bloſſen Worte des billigen Hausvaters: Was
recht ſeyn wird, das will Ich euch geben.
Liegt nun
in dieſem edlen Sinn, dieſem Zutrauen nicht mehr ſitt-
liches Verdienſt, als in dem allenfalls längerdaurenden,
knechtiſchen, lohnſüchtigen Arbeiten? Mich dünkt alſo:

Es
T 4
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[295[315]/0323] Gerechte und willkührliche Belohnung. Er will, und wem Er will — ohne daß irgend ein Weſen ein Recht hat, Ihn darüber zur Rede zu ſtel- len, oder mit Ihm unzufrieden zu ſeyn. 7. Aus dieſer Parabel aber folget gar nicht, daß Gott nicht nach Gerechtigkeit, nach Verhältniß des Fleiſ- ſes und der Treue belohne. Keine Wahrheit kann mit irgend einer andern Wahrheit im Widerſpruche ſtehen. Wahrheit iſts: Gott iſt frey und ungebunden in der Austheilung ſeiner Gnaden. Aber auch Wahr- heit iſts: Gott vergilt einem Jeden genau nach ſeinen Werken. Wer reichlich ſäet, der wird auch reichlich erndten; Wer ſparſamlich, kärg- lich ſäet, der wird auch kärglich erndten. Dieß ſcheint mit unſrer Parabel im Widerſpruche zu ſtehen. Ich ſage: Scheint denn noch einmahl: Der Wahr- heit kann keine Wahrheit widerſprechen. Wenn wir auf den Geiſt, die Abſicht der Parabel ſehen, ſo iſt klar — daß nach der ſtrengſten Gerechtigkeit vergolten wird. Die Erſten waren lohnſüchtig, die Letztern zutrauensvoll. Mit den Erſten war der Hausvater um einen Groſchen übereingekommen. Man mußte mit ihnen gleichſam einen Accord ſchlieſſen. Es müßte alles beſtimmt und verabredet werden. Die andern lieſſen ſich ohne Accord gefallen, zu arbeiten. Sie begnügten ſich mit dem bloſſen Worte des billigen Hausvaters: Was recht ſeyn wird, das will Ich euch geben. Liegt nun in dieſem edlen Sinn, dieſem Zutrauen nicht mehr ſitt- liches Verdienſt, als in dem allenfalls längerdaurenden, knechtiſchen, lohnſüchtigen Arbeiten? Mich dünkt alſo: Es 2. Cor. IX. 6 T 4

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 295[315]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/323>, abgerufen am 29.07.2024.