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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XIX.
Geiste angehauchte Gemüth wird beym lesen dieses Worts
in Versuchung seyn, über den so antwortenden Jüng-
ling herzufahren -- und ihm, diesem Jüngling den
pharisäischen Geist beyzumessen -- Wir unvollkommenen
und eiteln und stolzen sind immer die Ersten, die sich
über Unvollkommenheiten, Eitelkeiten, Stolzheiten an-
dret ärgern, oder sie da argwöhnen, wo diese Gesinnun-
gen bey weitem nicht so herrschend sind, wie in unserm
eignen Herzen -- der Schlimmste urtheilt immer
am schärfsten -- und der Beste und Reinste am

Marc. X. 21gelindesten. Jesus sah ihn an, heißt es bey Mar-
kus -- und gewann ihn lieb.
Kein gelinderer Be-
urtheiler der menschlichen Schwachheiten war, als der,
der von allen menschlichen Schwachheiten am weitesten
entfernt war, und doch war es nicht bloß Affektation,
angenommenes Wesen, oder Gefälligkeit, daß Jesus
diesen Menschen lieb gewonnen. Jesus konnte nichts lieb
gewinnen, was nicht etwas liebenswürdiges an sich hatte.
Also mußte, aller dieser scheinbaren Unbescheidenheit un-
geachtet der junge Mann gute Gesinnungen haben. Dieß
ist auch besonders aus dem vom Markus im Anfange
seiner Erzählung bemerkten Umstande klar. Da Jesus
hinausgegangen, lief einer vorne vor, knieete vor
Ihn, und fragte Ihn.

Jesus also gewann ihn lieb; Beschämte ihn
nicht durch demüthigende Vorwürfe. Er sah' ihn mit
dem anmuthvollen Lächeln warnender Weisheit und leh-
render Liebe an. Eins mangelt dir, -- das Eine
nothwendige! Fester Glaube an zukünftige, unsichtba-

re,

Matthäus XIX.
Geiſte angehauchte Gemüth wird beym leſen dieſes Worts
in Verſuchung ſeyn, über den ſo antwortenden Jüng-
ling herzufahren — und ihm, dieſem Jüngling den
phariſäiſchen Geiſt beyzumeſſen — Wir unvollkommenen
und eiteln und ſtolzen ſind immer die Erſten, die ſich
über Unvollkommenheiten, Eitelkeiten, Stolzheiten an-
dret ärgern, oder ſie da argwöhnen, wo dieſe Geſinnun-
gen bey weitem nicht ſo herrſchend ſind, wie in unſerm
eignen Herzen — der Schlimmſte urtheilt immer
am ſchärfſten — und der Beſte und Reinſte am

Marc. X. 21gelindeſten. Jeſus ſah ihn an, heißt es bey Mar-
kus — und gewann ihn lieb.
Kein gelinderer Be-
urtheiler der menſchlichen Schwachheiten war, als der,
der von allen menſchlichen Schwachheiten am weiteſten
entfernt war, und doch war es nicht bloß Affektation,
angenommenes Weſen, oder Gefälligkeit, daß Jeſus
dieſen Menſchen lieb gewonnen. Jeſus konnte nichts lieb
gewinnen, was nicht etwas liebenswürdiges an ſich hatte.
Alſo mußte, aller dieſer ſcheinbaren Unbeſcheidenheit un-
geachtet der junge Mann gute Geſinnungen haben. Dieß
iſt auch beſonders aus dem vom Markus im Anfange
ſeiner Erzählung bemerkten Umſtande klar. Da Jeſus
hinausgegangen, lief einer vorne vor, knieete vor
Ihn, und fragte Ihn.

Jeſus alſo gewann ihn lieb; Beſchämte ihn
nicht durch demüthigende Vorwürfe. Er ſah’ ihn mit
dem anmuthvollen Lächeln warnender Weisheit und leh-
render Liebe an. Eins mangelt dir, — das Eine
nothwendige! Feſter Glaube an zukünftige, unſichtba-

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[284[304]/0312] Matthäus XIX. Geiſte angehauchte Gemüth wird beym leſen dieſes Worts in Verſuchung ſeyn, über den ſo antwortenden Jüng- ling herzufahren — und ihm, dieſem Jüngling den phariſäiſchen Geiſt beyzumeſſen — Wir unvollkommenen und eiteln und ſtolzen ſind immer die Erſten, die ſich über Unvollkommenheiten, Eitelkeiten, Stolzheiten an- dret ärgern, oder ſie da argwöhnen, wo dieſe Geſinnun- gen bey weitem nicht ſo herrſchend ſind, wie in unſerm eignen Herzen — der Schlimmſte urtheilt immer am ſchärfſten — und der Beſte und Reinſte am gelindeſten. Jeſus ſah ihn an, heißt es bey Mar- kus — und gewann ihn lieb. Kein gelinderer Be- urtheiler der menſchlichen Schwachheiten war, als der, der von allen menſchlichen Schwachheiten am weiteſten entfernt war, und doch war es nicht bloß Affektation, angenommenes Weſen, oder Gefälligkeit, daß Jeſus dieſen Menſchen lieb gewonnen. Jeſus konnte nichts lieb gewinnen, was nicht etwas liebenswürdiges an ſich hatte. Alſo mußte, aller dieſer ſcheinbaren Unbeſcheidenheit un- geachtet der junge Mann gute Geſinnungen haben. Dieß iſt auch beſonders aus dem vom Markus im Anfange ſeiner Erzählung bemerkten Umſtande klar. Da Jeſus hinausgegangen, lief einer vorne vor, knieete vor Ihn, und fragte Ihn. Marc. X. 21 Jeſus alſo gewann ihn lieb; Beſchämte ihn nicht durch demüthigende Vorwürfe. Er ſah’ ihn mit dem anmuthvollen Lächeln warnender Weisheit und leh- render Liebe an. Eins mangelt dir, — das Eine nothwendige! Feſter Glaube an zukünftige, unſichtba- re,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 284[304]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/312>, abgerufen am 28.07.2024.