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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XVIII.
beleuchten. Kein Sittenlehrer, kein Weltweiser hat die
menschliche Natur so hoch geehrt, wie Christus, durch
die erste Hälfte dieser Parabel -- Und indem Christus
die menschliche Natur dadurch so hoch ehrt, daß Er
ihr die Großmuth zutraut, eine Million einem Schuld-
ner nachzulassen -- wie sehr erhebt und verehrt Er eben
dadurch den Urheber, das Urbild und den Vater der
menschlichen Natur? Wenn Einem der Kinder des
himmlischen Vaters so viele Großmuth verliehen ist --
wie viele muß unter alle unzähligen Kinder desselben Va-
ters vertheilt seyn? -- Und diese alle zusammen genom-
men -- können doch nie so großmüthig seyn, wie ihr
Vater! Wie unbegränzt muß also seine Großmuth seyn!
O Gott! Wie sollten wir uns unsers Herrn freuen, der
uns einen so guten Erbarmungsreichen Gott bekannt
gemacht hat, uns in seinem Namen seiner, alle Ge-
danken übersteigenden, Barmherzigkeit versichert hat!
Was können wir von dem erwarten, der sich durch sei-
nen Sohn unter dem Bilde eines Herrn vorstellen läßt,
der seinem Knechte auf ein dehmüthiges Bitten hin --
"Habe Geduld mit mir" -- zehntausend Talente nach-
läßt? Von dem, der uns siebenzigmahl siebenmahl ver-
zeihen heißt? Von dem, der nur unerbittlich ist gegen
unerbittliche -- Nichts kann seine Freude, sein Wohl-
gefallen am Vergeben klärer zeigen, als sein fühlbares
Mißfallen am Nichtvergeben. Der Zorn eines gütigen
ist das furchtbarste, was sich denken läßt. Wenn der
Großmüthigste genöthiget wird, zu zörnen, was wird
ihn besänftigen? Wer dem Allerversöhnlichsten Hohn

spricht,

Matthäus XVIII.
beleuchten. Kein Sittenlehrer, kein Weltweiſer hat die
menſchliche Natur ſo hoch geehrt, wie Chriſtus, durch
die erſte Hälfte dieſer Parabel — Und indem Chriſtus
die menſchliche Natur dadurch ſo hoch ehrt, daß Er
ihr die Großmuth zutraut, eine Million einem Schuld-
ner nachzulaſſen — wie ſehr erhebt und verehrt Er eben
dadurch den Urheber, das Urbild und den Vater der
menſchlichen Natur? Wenn Einem der Kinder des
himmliſchen Vaters ſo viele Großmuth verliehen iſt —
wie viele muß unter alle unzähligen Kinder deſſelben Va-
ters vertheilt ſeyn? — Und dieſe alle zuſammen genom-
men — können doch nie ſo großmüthig ſeyn, wie ihr
Vater! Wie unbegränzt muß alſo ſeine Großmuth ſeyn!
O Gott! Wie ſollten wir uns unſers Herrn freuen, der
uns einen ſo guten Erbarmungsreichen Gott bekannt
gemacht hat, uns in ſeinem Namen ſeiner, alle Ge-
danken überſteigenden, Barmherzigkeit verſichert hat!
Was können wir von dem erwarten, der ſich durch ſei-
nen Sohn unter dem Bilde eines Herrn vorſtellen läßt,
der ſeinem Knechte auf ein dehmüthiges Bitten hin —
„Habe Geduld mit mir„ — zehntauſend Talente nach-
läßt? Von dem, der uns ſiebenzigmahl ſiebenmahl ver-
zeihen heißt? Von dem, der nur unerbittlich iſt gegen
unerbittliche — Nichts kann ſeine Freude, ſein Wohl-
gefallen am Vergeben klärer zeigen, als ſein fühlbares
Mißfallen am Nichtvergeben. Der Zorn eines gütigen
iſt das furchtbarſte, was ſich denken läßt. Wenn der
Großmüthigſte genöthiget wird, zu zörnen, was wird
ihn beſänftigen? Wer dem Allerverſöhnlichſten Hohn

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[272[292]/0300] Matthäus XVIII. beleuchten. Kein Sittenlehrer, kein Weltweiſer hat die menſchliche Natur ſo hoch geehrt, wie Chriſtus, durch die erſte Hälfte dieſer Parabel — Und indem Chriſtus die menſchliche Natur dadurch ſo hoch ehrt, daß Er ihr die Großmuth zutraut, eine Million einem Schuld- ner nachzulaſſen — wie ſehr erhebt und verehrt Er eben dadurch den Urheber, das Urbild und den Vater der menſchlichen Natur? Wenn Einem der Kinder des himmliſchen Vaters ſo viele Großmuth verliehen iſt — wie viele muß unter alle unzähligen Kinder deſſelben Va- ters vertheilt ſeyn? — Und dieſe alle zuſammen genom- men — können doch nie ſo großmüthig ſeyn, wie ihr Vater! Wie unbegränzt muß alſo ſeine Großmuth ſeyn! O Gott! Wie ſollten wir uns unſers Herrn freuen, der uns einen ſo guten Erbarmungsreichen Gott bekannt gemacht hat, uns in ſeinem Namen ſeiner, alle Ge- danken überſteigenden, Barmherzigkeit verſichert hat! Was können wir von dem erwarten, der ſich durch ſei- nen Sohn unter dem Bilde eines Herrn vorſtellen läßt, der ſeinem Knechte auf ein dehmüthiges Bitten hin — „Habe Geduld mit mir„ — zehntauſend Talente nach- läßt? Von dem, der uns ſiebenzigmahl ſiebenmahl ver- zeihen heißt? Von dem, der nur unerbittlich iſt gegen unerbittliche — Nichts kann ſeine Freude, ſein Wohl- gefallen am Vergeben klärer zeigen, als ſein fühlbares Mißfallen am Nichtvergeben. Der Zorn eines gütigen iſt das furchtbarſte, was ſich denken läßt. Wenn der Großmüthigſte genöthiget wird, zu zörnen, was wird ihn beſänftigen? Wer dem Allerverſöhnlichſten Hohn ſpricht,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 272[292]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/300>, abgerufen am 24.11.2024.