Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Vergebung des Beleidigers. Weltweisesten bis zum Unwissendsten herab versteht sieein jeder, der sie verstehen will. Oder braucht's etwa große Sprach- und Alterthumskenntniß, um das We- sentliche davon zu verstehen? -- Was heißt vergeben? Wer soll vergeben? Wem soll vergeben werden? Wie? Wie oft? Was hat der Vergeber zu hoffen? Was zu erwarten der, der nicht vergeben will? Alle diese für gute und weise Menschen so wichtige Fragen werden so einsältig, so richtig wie möglich in unserer Stelle beant- wortet. So sollen wir vergeben, wie wir wünschen, daß Gott uns vergebe. Wünschen wir, daß Gott uns tausendmahl vergebe, wenn wir tausendmahl gesündigt haben; So laßt uns auch tausendmahl vergeben, wenn wir tausendmahl beleidigt worden sind. Gott ist unbe- gränzt barmherzig gegen die so es unbegränzt sind gegen ihre Beleidiger. Der Herr in der Parabel läßt zehen- tausend Talente nach -- eine Million allenfalls nach dem, der es nicht hatte zu bezahlen, und sich demüthig ihm zu Füßen wirft. Er thut mehr als von dem Schuldner verlangt wird. Der Schuldner begehrt nur Geduld, nicht Nachlaß. Der Herr läßt ihm Alles nach, was er nicht bezahlen kann. Eine grössre Großmuth läßt sich kaum gedenken. Was dürfen wir uns von Gott, was von dem Vater der Menschen versprechen, wenn Christus so viel Großmuth einem Menschen beymißt? Christus kannte den Menschen so gut, als Er Gott kannte. Er wußte, welcher Tugenden der Mensch fä- hig ist. Er läßt keine Gelegenheit vorbey, die mensch- liche Natur zu ehren, und ihre Würde und Kräfte zu beleuch-
Vergebung des Beleidigers. Weltweiſeſten bis zum Unwiſſendſten herab verſteht ſieein jeder, der ſie verſtehen will. Oder braucht’s etwa große Sprach- und Alterthumskenntniß, um das We- ſentliche davon zu verſtehen? — Was heißt vergeben? Wer ſoll vergeben? Wem ſoll vergeben werden? Wie? Wie oft? Was hat der Vergeber zu hoffen? Was zu erwarten der, der nicht vergeben will? Alle dieſe für gute und weiſe Menſchen ſo wichtige Fragen werden ſo einſältig, ſo richtig wie möglich in unſerer Stelle beant- wortet. So ſollen wir vergeben, wie wir wünſchen, daß Gott uns vergebe. Wünſchen wir, daß Gott uns tauſendmahl vergebe, wenn wir tauſendmahl geſündigt haben; So laßt uns auch tauſendmahl vergeben, wenn wir tauſendmahl beleidigt worden ſind. Gott iſt unbe- gränzt barmherzig gegen die ſo es unbegränzt ſind gegen ihre Beleidiger. Der Herr in der Parabel läßt zehen- tauſend Talente nach — eine Million allenfalls nach dem, der es nicht hatte zu bezahlen, und ſich demüthig ihm zu Füßen wirft. Er thut mehr als von dem Schuldner verlangt wird. Der Schuldner begehrt nur Geduld, nicht Nachlaß. Der Herr läßt ihm Alles nach, was er nicht bezahlen kann. Eine gröſſre Großmuth läßt ſich kaum gedenken. Was dürfen wir uns von Gott, was von dem Vater der Menſchen verſprechen, wenn Chriſtus ſo viel Großmuth einem Menſchen beymißt? Chriſtus kannte den Menſchen ſo gut, als Er Gott kannte. Er wußte, welcher Tugenden der Menſch fä- hig iſt. Er läßt keine Gelegenheit vorbey, die menſch- liche Natur zu ehren, und ihre Würde und Kräfte zu beleuch-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0299" n="271[291]"/><fw place="top" type="header">Vergebung des Beleidigers.</fw><lb/> Weltweiſeſten bis zum Unwiſſendſten herab verſteht ſie<lb/> ein jeder, der ſie verſtehen will. Oder braucht’s etwa<lb/> große Sprach- und Alterthumskenntniß, um das We-<lb/> ſentliche davon zu verſtehen? — Was heißt <hi rendition="#fr">vergeben?<lb/> Wer</hi> ſoll vergeben? <hi rendition="#fr">Wem</hi> ſoll vergeben werden? <hi rendition="#fr">Wie?</hi><lb/> Wie <hi rendition="#fr">oft?</hi> Was hat der Vergeber zu hoffen? Was zu<lb/> erwarten der, der nicht vergeben will? Alle dieſe für<lb/> gute und weiſe Menſchen ſo wichtige Fragen werden ſo<lb/> einſältig, ſo richtig wie möglich in unſerer Stelle beant-<lb/> wortet. <hi rendition="#fr">So</hi> ſollen wir vergeben, wie wir wünſchen,<lb/> daß Gott <hi rendition="#fr">uns</hi> vergebe. Wünſchen wir, daß Gott uns<lb/> tauſendmahl vergebe, wenn wir tauſendmahl geſündigt<lb/> haben; So laßt uns auch tauſendmahl vergeben, wenn<lb/> wir tauſendmahl beleidigt worden ſind. Gott iſt unbe-<lb/> gränzt barmherzig gegen die ſo es unbegränzt ſind gegen<lb/> ihre Beleidiger. Der Herr in der Parabel läßt zehen-<lb/> tauſend Talente nach — eine Million allenfalls nach dem,<lb/> der es nicht hatte zu bezahlen, und ſich demüthig ihm zu<lb/> Füßen wirft. Er thut mehr als von dem Schuldner<lb/> verlangt wird. Der Schuldner begehrt nur Geduld,<lb/> nicht Nachlaß. Der Herr läßt ihm Alles nach, was<lb/> er nicht bezahlen kann. Eine gröſſre Großmuth läßt<lb/> ſich kaum gedenken. Was dürfen wir uns von Gott,<lb/> was von dem <hi rendition="#fr">Vater</hi> der Menſchen verſprechen, wenn<lb/> Chriſtus ſo viel Großmuth einem Menſchen beymißt?<lb/> Chriſtus kannte den Menſchen ſo gut, als Er Gott<lb/> kannte. Er wußte, welcher Tugenden der Menſch fä-<lb/> hig iſt. Er läßt keine Gelegenheit vorbey, die menſch-<lb/> liche Natur zu ehren, und ihre Würde und Kräfte zu<lb/> <fw place="bottom" type="catch">beleuch-</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [271[291]/0299]
Vergebung des Beleidigers.
Weltweiſeſten bis zum Unwiſſendſten herab verſteht ſie
ein jeder, der ſie verſtehen will. Oder braucht’s etwa
große Sprach- und Alterthumskenntniß, um das We-
ſentliche davon zu verſtehen? — Was heißt vergeben?
Wer ſoll vergeben? Wem ſoll vergeben werden? Wie?
Wie oft? Was hat der Vergeber zu hoffen? Was zu
erwarten der, der nicht vergeben will? Alle dieſe für
gute und weiſe Menſchen ſo wichtige Fragen werden ſo
einſältig, ſo richtig wie möglich in unſerer Stelle beant-
wortet. So ſollen wir vergeben, wie wir wünſchen,
daß Gott uns vergebe. Wünſchen wir, daß Gott uns
tauſendmahl vergebe, wenn wir tauſendmahl geſündigt
haben; So laßt uns auch tauſendmahl vergeben, wenn
wir tauſendmahl beleidigt worden ſind. Gott iſt unbe-
gränzt barmherzig gegen die ſo es unbegränzt ſind gegen
ihre Beleidiger. Der Herr in der Parabel läßt zehen-
tauſend Talente nach — eine Million allenfalls nach dem,
der es nicht hatte zu bezahlen, und ſich demüthig ihm zu
Füßen wirft. Er thut mehr als von dem Schuldner
verlangt wird. Der Schuldner begehrt nur Geduld,
nicht Nachlaß. Der Herr läßt ihm Alles nach, was
er nicht bezahlen kann. Eine gröſſre Großmuth läßt
ſich kaum gedenken. Was dürfen wir uns von Gott,
was von dem Vater der Menſchen verſprechen, wenn
Chriſtus ſo viel Großmuth einem Menſchen beymißt?
Chriſtus kannte den Menſchen ſo gut, als Er Gott
kannte. Er wußte, welcher Tugenden der Menſch fä-
hig iſt. Er läßt keine Gelegenheit vorbey, die menſch-
liche Natur zu ehren, und ihre Würde und Kräfte zu
beleuch-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |