&q;Sag' mir mit edler Offenherzigkeit, wenn du glaubst, &q;daß ich mich in diesem oder jenem vergangen oder über- &q;eilt habe. -- Sündigt dein Bruder wider dich; &q;So geh' hin und straf ihn zwischen dir und ihm &q;allein!" Welche weise Regel der Liebe -- wie würdig des grossen Predigers und Vorbilds der Liebe! Aber! Wer gehorcht Ihr? -- Wer der ihr gehorchen wollte, würde von unbrüderlichen Herzen nicht ausgehöhnt wer- den? Und doch wie mancher redliche, bloß durch ein Vorurtheil, eine Leidenschaft Hineingerissene könnte ge- wonnen werden, wenn es uns ums Gewinnen des Bru- ders zu thun wäre? Aber! Ach, wem ist's ums Gewin- nen zu thun? Und dennoch, wie kräftig und laut sagt es jedem in jeder stillen Stunde das eigne sittliche Ge- fühl: Ein Mensch der nicht gewinnen sondern wehthun will, ist ein abscheulicher Mensch. Und, wer nicht gewonnen werden kann durch Duldung, durch sanfte Bestrafungen, durch Vorstellungen, die ihm in der Stille gemacht werden -- was ist der? Ein- mahl nicht so gut, so edel, so gelehrig, so wahrheitlie- bend, wie der Gewinnbare; Wie der Liebenswürdige, der gestehen kann: Ich habe gefehlt! Der auf die Hand des Beleidigten eine warme Zähre der Schaam und der Wehmuth fallen läßt. -- Einmahl nicht so gut, wie der, der dem Beleidigten um den Hals fallen und sagen kann -- "Vergib mir, wie Gott dir vergeben "wird, wenn du mir vergiebst!" -- Höret er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Aber wenn du ihn auch für dich allein im Stillen nicht gewinnen kannst;
Wenn
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Gewinnung des Beleidigers.
&q;Sag’ mir mit edler Offenherzigkeit, wenn du glaubſt, &q;daß ich mich in dieſem oder jenem vergangen oder über- &q;eilt habe. — Sündigt dein Bruder wider dich; &q;So geh’ hin und ſtraf ihn zwiſchen dir und ihm &q;allein!“ Welche weiſe Regel der Liebe — wie würdig des groſſen Predigers und Vorbilds der Liebe! Aber! Wer gehorcht Ihr? — Wer der ihr gehorchen wollte, würde von unbrüderlichen Herzen nicht ausgehöhnt wer- den? Und doch wie mancher redliche, bloß durch ein Vorurtheil, eine Leidenſchaft Hineingeriſſene könnte ge- wonnen werden, wenn es uns ums Gewinnen des Bru- ders zu thun wäre? Aber! Ach, wem iſt’s ums Gewin- nen zu thun? Und dennoch, wie kräftig und laut ſagt es jedem in jeder ſtillen Stunde das eigne ſittliche Ge- fühl: Ein Menſch der nicht gewinnen ſondern wehthun will, iſt ein abſcheulicher Menſch. Und, wer nicht gewonnen werden kann durch Duldung, durch ſanfte Beſtrafungen, durch Vorſtellungen, die ihm in der Stille gemacht werden — was iſt der? Ein- mahl nicht ſo gut, ſo edel, ſo gelehrig, ſo wahrheitlie- bend, wie der Gewinnbare; Wie der Liebenswürdige, der geſtehen kann: Ich habe gefehlt! Der auf die Hand des Beleidigten eine warme Zähre der Schaam und der Wehmuth fallen läßt. — Einmahl nicht ſo gut, wie der, der dem Beleidigten um den Hals fallen und ſagen kann — „Vergib mir, wie Gott dir vergeben „wird, wenn du mir vergiebſt!„ — Höret er dich, ſo haſt du deinen Bruder gewonnen. Aber wenn du ihn auch für dich allein im Stillen nicht gewinnen kannſt;
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[263[283]/0291]
Gewinnung des Beleidigers.
&q;Sag’ mir mit edler Offenherzigkeit, wenn du glaubſt,
&q;daß ich mich in dieſem oder jenem vergangen oder über-
&q;eilt habe. — Sündigt dein Bruder wider dich;
&q;So geh’ hin und ſtraf ihn zwiſchen dir und ihm
&q;allein!“ Welche weiſe Regel der Liebe — wie würdig
des groſſen Predigers und Vorbilds der Liebe! Aber!
Wer gehorcht Ihr? — Wer der ihr gehorchen wollte,
würde von unbrüderlichen Herzen nicht ausgehöhnt wer-
den? Und doch wie mancher redliche, bloß durch ein
Vorurtheil, eine Leidenſchaft Hineingeriſſene könnte ge-
wonnen werden, wenn es uns ums Gewinnen des Bru-
ders zu thun wäre? Aber! Ach, wem iſt’s ums Gewin-
nen zu thun? Und dennoch, wie kräftig und laut ſagt
es jedem in jeder ſtillen Stunde das eigne ſittliche Ge-
fühl: Ein Menſch der nicht gewinnen ſondern
wehthun will, iſt ein abſcheulicher Menſch.
Und, wer nicht gewonnen werden kann durch Duldung,
durch ſanfte Beſtrafungen, durch Vorſtellungen, die
ihm in der Stille gemacht werden — was iſt der? Ein-
mahl nicht ſo gut, ſo edel, ſo gelehrig, ſo wahrheitlie-
bend, wie der Gewinnbare; Wie der Liebenswürdige,
der geſtehen kann: Ich habe gefehlt! Der auf die
Hand des Beleidigten eine warme Zähre der Schaam
und der Wehmuth fallen läßt. — Einmahl nicht ſo
gut, wie der, der dem Beleidigten um den Hals fallen
und ſagen kann — „Vergib mir, wie Gott dir vergeben
„wird, wenn du mir vergiebſt!„ — Höret er dich, ſo
haſt du deinen Bruder gewonnen. Aber wenn du
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 263[283]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/291>, abgerufen am 25.11.2024.
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