Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Matthäus X. Christenthum -- und mit diesen so guten, so rühmlichenGesinnungen vereinigen sie -- wer sollte es glauben, wenn es nicht klare Erfahrung wäre? Vereinigen sie, sag' ich, einen gewissen stolzen unerweichlichen Eigen- sinn, eine unnachgebende Rechthaberes, eine festhalten- de Anhänglichkeit an gewissen, widerlichen Gebehrden, angenommenen, anstößigen Redensarten, die sie gar leicht und unbeschadet des Gewissens, mit eben so gu- ten, gefälligern, unanstößigern verwechseln könnten. Besonders sehen sie mit Blicken einer stolzen, verdam- menden, aneckelnden Verachtung auf andre Menschen, die entweder noch fern von Gott sind, oder nicht auf die Weise, mit der Sprache und Manier, wie sie Gott ehren, herab. Sie sind lieblose Scharfrichter an- drer. Sie glauben sich berechtigt -- Ihre innern lieb- losen Urtheile über andere aussprechen, und sie dadurch dehmüthigen und kränken zu dürfen. Sind sie Ehe- frauen; So vereinigen sie mit guten Gesinnungen und Absichten ihre leichtsinnigeren Männer vom Verderben zurückzuziehen eine Art beissende Schalckheit, die un- möglich anders, als zu mehrerer Verhärtung und Ent- fernung ihrer Männer wirksam seyn kann. Sind sie Aeltern, so drangsaliren sie ihre freylich flüchtigen Kin- der mit einer solchen Schärfe und drückenden Gewalt, daß diese gegen alles, was Religion und Fömmigkeit heißt, mit unversöhnlichen Widerwillen eingenommen werden müssen. Sind sie Kinder -- so werden sie die eigensinnigsten Plager ihrer Aeltern, und machen sich und ihre Lehrer, wie sehr diese sie vor solchem Unwesen mögen
Matthäus X. Chriſtenthum — und mit dieſen ſo guten, ſo rühmlichenGeſinnungen vereinigen ſie — wer ſollte es glauben, wenn es nicht klare Erfahrung wäre? Vereinigen ſie, ſag’ ich, einen gewiſſen ſtolzen unerweichlichen Eigen- ſinn, eine unnachgebende Rechthaberes, eine feſthalten- de Anhänglichkeit an gewiſſen, widerlichen Gebehrden, angenommenen, anſtößigen Redensarten, die ſie gar leicht und unbeſchadet des Gewiſſens, mit eben ſo gu- ten, gefälligern, unanſtößigern verwechſeln könnten. Beſonders ſehen ſie mit Blicken einer ſtolzen, verdam- menden, aneckelnden Verachtung auf andre Menſchen, die entweder noch fern von Gott ſind, oder nicht auf die Weiſe, mit der Sprache und Manier, wie ſie Gott ehren, herab. Sie ſind liebloſe Scharfrichter an- drer. Sie glauben ſich berechtigt — Ihre innern lieb- loſen Urtheile über andere ausſprechen, und ſie dadurch dehmüthigen und kränken zu dürfen. Sind ſie Ehe- frauen; So vereinigen ſie mit guten Geſinnungen und Abſichten ihre leichtſinnigeren Männer vom Verderben zurückzuziehen eine Art beiſſende Schalckheit, die un- möglich anders, als zu mehrerer Verhärtung und Ent- fernung ihrer Männer wirkſam ſeyn kann. Sind ſie Aeltern, ſo drangſaliren ſie ihre freylich flüchtigen Kin- der mit einer ſolchen Schärfe und drückenden Gewalt, daß dieſe gegen alles, was Religion und Fömmigkeit heißt, mit unverſöhnlichen Widerwillen eingenommen werden müſſen. Sind ſie Kinder — ſo werden ſie die eigenſinnigſten Plager ihrer Aeltern, und machen ſich und ihre Lehrer, wie ſehr dieſe ſie vor ſolchem Unweſen mögen
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Matthäus X.
Chriſtenthum — und mit dieſen ſo guten, ſo rühmlichen
Geſinnungen vereinigen ſie — wer ſollte es glauben,
wenn es nicht klare Erfahrung wäre? Vereinigen ſie,
ſag’ ich, einen gewiſſen ſtolzen unerweichlichen Eigen-
ſinn, eine unnachgebende Rechthaberes, eine feſthalten-
de Anhänglichkeit an gewiſſen, widerlichen Gebehrden,
angenommenen, anſtößigen Redensarten, die ſie gar
leicht und unbeſchadet des Gewiſſens, mit eben ſo gu-
ten, gefälligern, unanſtößigern verwechſeln könnten.
Beſonders ſehen ſie mit Blicken einer ſtolzen, verdam-
menden, aneckelnden Verachtung auf andre Menſchen,
die entweder noch fern von Gott ſind, oder nicht auf
die Weiſe, mit der Sprache und Manier, wie ſie
Gott ehren, herab. Sie ſind liebloſe Scharfrichter an-
drer. Sie glauben ſich berechtigt — Ihre innern lieb-
loſen Urtheile über andere ausſprechen, und ſie dadurch
dehmüthigen und kränken zu dürfen. Sind ſie Ehe-
frauen; So vereinigen ſie mit guten Geſinnungen und
Abſichten ihre leichtſinnigeren Männer vom Verderben
zurückzuziehen eine Art beiſſende Schalckheit, die un-
möglich anders, als zu mehrerer Verhärtung und Ent-
fernung ihrer Männer wirkſam ſeyn kann. Sind ſie
Aeltern, ſo drangſaliren ſie ihre freylich flüchtigen Kin-
der mit einer ſolchen Schärfe und drückenden Gewalt,
daß dieſe gegen alles, was Religion und Fömmigkeit
heißt, mit unverſöhnlichen Widerwillen eingenommen
werden müſſen. Sind ſie Kinder — ſo werden ſie die
eigenſinnigſten Plager ihrer Aeltern, und machen ſich
und ihre Lehrer, wie ſehr dieſe ſie vor ſolchem Unweſen
mögen
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