Ich. Das verstehe ich nicht, und bin begierig, es zu vernehmen.
Er. Ja, sehen Sie, Judas hat sich an ei- nen Baum gehenkt, nachdem es ihm leid gewor- den war, daß er den Herrn verrathen hatte. Der Baum, woran sich der Schuft aufhenkte, war ein Weidenbaum.
Ich. Je nun, wenn es auch ein Weidenbaum war, so wars doch gewiß keiner von diesen da.
Er. Nein, das wars nicht: aber es war doch ein Weidenbaum, und nun müßen alle Weiden- bäume dafür büßen: Gott hat sie alle verflucht, daß sie müßen aufbersten, wie Judas, der Verrä- ther, aufgeborsten ist. Hab ich nicht Recht, Herr?
Gegen ein solches Argument hatte ich nun frey- lich nichts einzuwenden, aber aus dem angeführten Gespräch erhellet doch, wie stark die Macht des Aberglaubens noch ist, und wie kraß und finster die Begriffe der Leute vom lieben Gott seyn müßen, welcher alle Weidenbäume verfluchen kann, weil Judas, der Schuft, sich an einen Weidenbaum gehenkt hat. Unsre heiligen Bücher selbst scheinen diesen seltsamen, der göttlichen Gerechtigkeit so nach- theiligen Fratzenglauben, zu unterstützen. Denn da liest ja der Pöbel auch, daß Jesus einen Feigen- baum ve[ - 1 Zeichen fehlt]flucht habe, weil er zu einer Zeit, da er keine Feigen haben konnte, auch wirklich keine hatte.
Ich. Das verſtehe ich nicht, und bin begierig, es zu vernehmen.
Er. Ja, ſehen Sie, Judas hat ſich an ei- nen Baum gehenkt, nachdem es ihm leid gewor- den war, daß er den Herrn verrathen hatte. Der Baum, woran ſich der Schuft aufhenkte, war ein Weidenbaum.
Ich. Je nun, wenn es auch ein Weidenbaum war, ſo wars doch gewiß keiner von dieſen da.
Er. Nein, das wars nicht: aber es war doch ein Weidenbaum, und nun muͤßen alle Weiden- baͤume dafuͤr buͤßen: Gott hat ſie alle verflucht, daß ſie muͤßen aufberſten, wie Judas, der Verraͤ- ther, aufgeborſten iſt. Hab ich nicht Recht, Herr?
Gegen ein ſolches Argument hatte ich nun frey- lich nichts einzuwenden, aber aus dem angefuͤhrten Geſpraͤch erhellet doch, wie ſtark die Macht des Aberglaubens noch iſt, und wie kraß und finſter die Begriffe der Leute vom lieben Gott ſeyn muͤßen, welcher alle Weidenbaͤume verfluchen kann, weil Judas, der Schuft, ſich an einen Weidenbaum gehenkt hat. Unſre heiligen Buͤcher ſelbſt ſcheinen dieſen ſeltſamen, der goͤttlichen Gerechtigkeit ſo nach- theiligen Fratzenglauben, zu unterſtuͤtzen. Denn da lieſt ja der Poͤbel auch, daß Jeſus einen Feigen- baum ve[ – 1 Zeichen fehlt]flucht habe, weil er zu einer Zeit, da er keine Feigen haben konnte, auch wirklich keine hatte.
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Ich. Das verſtehe ich nicht, und bin begierig,
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Er. Ja, ſehen Sie, Judas hat ſich an ei-
nen Baum gehenkt, nachdem es ihm leid gewor-
den war, daß er den Herrn verrathen hatte. Der
Baum, woran ſich der Schuft aufhenkte, war ein
Weidenbaum.
Ich. Je nun, wenn es auch ein Weidenbaum
war, ſo wars doch gewiß keiner von dieſen da.
Er. Nein, das wars nicht: aber es war doch
ein Weidenbaum, und nun muͤßen alle Weiden-
baͤume dafuͤr buͤßen: Gott hat ſie alle verflucht,
daß ſie muͤßen aufberſten, wie Judas, der Verraͤ-
ther, aufgeborſten iſt. Hab ich nicht Recht, Herr?
Gegen ein ſolches Argument hatte ich nun frey-
lich nichts einzuwenden, aber aus dem angefuͤhrten
Geſpraͤch erhellet doch, wie ſtark die Macht des
Aberglaubens noch iſt, und wie kraß und finſter
die Begriffe der Leute vom lieben Gott ſeyn muͤßen,
welcher alle Weidenbaͤume verfluchen kann, weil
Judas, der Schuft, ſich an einen Weidenbaum
gehenkt hat. Unſre heiligen Buͤcher ſelbſt ſcheinen
dieſen ſeltſamen, der goͤttlichen Gerechtigkeit ſo nach-
theiligen Fratzenglauben, zu unterſtuͤtzen. Denn
da lieſt ja der Poͤbel auch, daß Jeſus einen Feigen-
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 5. Leipzig, 1802, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben05_1802/234>, abgerufen am 16.02.2025.
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