Nebenmenschen, mit dem wir nicht im Kontrakt ste- hen. Verstehst Du mich?
Ich: Also dürfte ich ja einen Menschen, mit dem ich nicht im Kontrakt stehe, ermorden, bestehlen!
Landrin: Da haben wir's ja, das liebe Na- turrecht, die schönen Zwangspflichten! -- Pflicht besteht im thun müssen, nicht im Unterlassen müs- sen. Unterscheide doch den ruhigen Zustand der gesellschaftlichen Schuldigkeit von dem kriegerischen Zustande der Nothwendigkeit des Nichtbeleidigens! -- Sobald du etwas thun mußt, hast du eine Pflicht zu erfüllen. Wenn man dir nun viel zu thun giebt, so giebt man dir viele Pflichten. Dann merkst du aber bald, daß du Manches thun mußt, das du eigentlich nicht schuldig bist zu thun, das heißt, du siehst ein, daß du Pflichten hast, die keine sind. Diese übertrittst du leicht: denn dein Gewissen macht dir keine Vorwürfe. Aber da du es doch heimlich thun mußt, aus Furcht vor der Strafe: so wirst du unaufrichtig, falsch und heuch- lerisch im Reden und Handeln: und der Haupt- schritt zur Immoralität ist gethan. Bisher hast du blos die Stimme der Vernunft noch gehört, und eben deswegen keine wahre Schuldigkeit ver- nachläßiget: aber bald wirst du auch die Stimme der Sophisterey und der Leidenschaft hören, und wirkliche Laster begehen: denn du wirst Vernunft
Nebenmenſchen, mit dem wir nicht im Kontrakt ſte- hen. Verſtehſt Du mich?
Ich: Alſo duͤrfte ich ja einen Menſchen, mit dem ich nicht im Kontrakt ſtehe, ermorden, beſtehlen!
Landrin: Da haben wir's ja, das liebe Na- turrecht, die ſchoͤnen Zwangspflichten! — Pflicht beſteht im thun muͤſſen, nicht im Unterlaſſen muͤſ- ſen. Unterſcheide doch den ruhigen Zuſtand der geſellſchaftlichen Schuldigkeit von dem kriegeriſchen Zuſtande der Nothwendigkeit des Nichtbeleidigens! — Sobald du etwas thun mußt, haſt du eine Pflicht zu erfuͤllen. Wenn man dir nun viel zu thun giebt, ſo giebt man dir viele Pflichten. Dann merkſt du aber bald, daß du Manches thun mußt, das du eigentlich nicht ſchuldig biſt zu thun, das heißt, du ſiehſt ein, daß du Pflichten haſt, die keine ſind. Dieſe uͤbertrittſt du leicht: denn dein Gewiſſen macht dir keine Vorwuͤrfe. Aber da du es doch heimlich thun mußt, aus Furcht vor der Strafe: ſo wirſt du unaufrichtig, falſch und heuch- leriſch im Reden und Handeln: und der Haupt- ſchritt zur Immoralitaͤt iſt gethan. Bisher haſt du blos die Stimme der Vernunft noch gehoͤrt, und eben deswegen keine wahre Schuldigkeit ver- nachlaͤßiget: aber bald wirſt du auch die Stimme der Sophiſterey und der Leidenſchaft hoͤren, und wirkliche Laſter begehen: denn du wirſt Vernunft
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0330"n="326"/>
Nebenmenſchen, mit dem wir nicht im Kontrakt ſte-<lb/>
hen. Verſtehſt Du mich?</p><lb/><p><hirendition="#g">Ich</hi>: Alſo duͤrfte ich ja einen Menſchen, mit dem<lb/>
ich nicht im Kontrakt ſtehe, ermorden, beſtehlen!</p><lb/><p><hirendition="#g">Landrin</hi>: Da haben wir's ja, das liebe Na-<lb/>
turrecht, die ſchoͤnen Zwangspflichten! — Pflicht<lb/>
beſteht im thun muͤſſen, nicht im Unterlaſſen muͤſ-<lb/>ſen. Unterſcheide doch den ruhigen Zuſtand der<lb/>
geſellſchaftlichen Schuldigkeit von dem kriegeriſchen<lb/>
Zuſtande der Nothwendigkeit des Nichtbeleidigens!<lb/>— Sobald du etwas <hirendition="#g">thun</hi> mußt, haſt du eine<lb/>
Pflicht zu erfuͤllen. Wenn man dir nun viel zu<lb/>
thun giebt, ſo giebt man dir viele Pflichten. Dann<lb/>
merkſt du aber bald, daß du Manches thun mußt,<lb/>
das du eigentlich nicht ſchuldig biſt zu thun, das<lb/>
heißt, du ſiehſt ein, daß du Pflichten haſt, die<lb/>
keine ſind. Dieſe uͤbertrittſt du leicht: denn dein<lb/>
Gewiſſen macht dir keine Vorwuͤrfe. Aber da du<lb/>
es doch heimlich thun mußt, aus Furcht vor der<lb/>
Strafe: ſo wirſt du unaufrichtig, falſch und heuch-<lb/>
leriſch im Reden und Handeln: und der Haupt-<lb/>ſchritt zur Immoralitaͤt iſt gethan. Bisher haſt<lb/>
du blos die Stimme der Vernunft noch gehoͤrt,<lb/>
und eben deswegen keine wahre Schuldigkeit ver-<lb/>
nachlaͤßiget: aber bald wirſt du auch die Stimme<lb/>
der Sophiſterey und der Leidenſchaft hoͤren, und<lb/>
wirkliche Laſter begehen: denn du wirſt Vernunft<lb/></p></div></body></text></TEI>
[326/0330]
Nebenmenſchen, mit dem wir nicht im Kontrakt ſte-
hen. Verſtehſt Du mich?
Ich: Alſo duͤrfte ich ja einen Menſchen, mit dem
ich nicht im Kontrakt ſtehe, ermorden, beſtehlen!
Landrin: Da haben wir's ja, das liebe Na-
turrecht, die ſchoͤnen Zwangspflichten! — Pflicht
beſteht im thun muͤſſen, nicht im Unterlaſſen muͤſ-
ſen. Unterſcheide doch den ruhigen Zuſtand der
geſellſchaftlichen Schuldigkeit von dem kriegeriſchen
Zuſtande der Nothwendigkeit des Nichtbeleidigens!
— Sobald du etwas thun mußt, haſt du eine
Pflicht zu erfuͤllen. Wenn man dir nun viel zu
thun giebt, ſo giebt man dir viele Pflichten. Dann
merkſt du aber bald, daß du Manches thun mußt,
das du eigentlich nicht ſchuldig biſt zu thun, das
heißt, du ſiehſt ein, daß du Pflichten haſt, die
keine ſind. Dieſe uͤbertrittſt du leicht: denn dein
Gewiſſen macht dir keine Vorwuͤrfe. Aber da du
es doch heimlich thun mußt, aus Furcht vor der
Strafe: ſo wirſt du unaufrichtig, falſch und heuch-
leriſch im Reden und Handeln: und der Haupt-
ſchritt zur Immoralitaͤt iſt gethan. Bisher haſt
du blos die Stimme der Vernunft noch gehoͤrt,
und eben deswegen keine wahre Schuldigkeit ver-
nachlaͤßiget: aber bald wirſt du auch die Stimme
der Sophiſterey und der Leidenſchaft hoͤren, und
wirkliche Laſter begehen: denn du wirſt Vernunft
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,1. Leipzig, 1797, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0401_1797/330>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.