fand sich bey dem seinigen wohl, doch versprach er, in Zukunft behutsamer zu werden.
Eines Tages hatte er mit mehrern lustigen Brüdern bis früh um fünf Uhr gezecht. Er sah dann nach der Uhr, sprang auf, und sagte: "es ist Zeit, daß ich nach Hause gehe, mich anzukleiden: denn diesen Morgen muß ich Messe lesen: es ist heute ein hohes Fest." Was, Messe lesen? schrieen die Andern: Sie sind ja nicht mehr nüchtern! Schneider lachte, und gestand, daß er sich seit langer Zeit her nicht erinnern könne, Messe nüch- tern gelesen zu haben: er pflege immer vorher ein Glas Wein, oder des etwas zu trinken. Wirklich ging er auch nach der Domkirche und las seine Messe. -- Man muß nämlich wissen, daß, nach Vorschrift der katholischen Kirche, jeder Priester, der Messe lesen, wie jeder gesunde Laie, der zum Abendmahl gehen will, nüchtern seyn müsse, das heißt, er darf von Mitternacht an nichts ge- gessen oder getrunken haben.
Die Gesellschaft war sehr gemischt: Schnei- der hatte Feinde darin; und nun wurde, wie man leicht denken kann, in der ganzen Stadt aus- gesprengt: der Vikarius des Bischofs, Herr Schneider, habe ein Sakrilegium begangen! Er habe, ohne nüchtern gewesen zu seyn, Messe gelesen! Das sey ein allerliebster Geistlicher, ein
fand ſich bey dem ſeinigen wohl, doch verſprach er, in Zukunft behutſamer zu werden.
Eines Tages hatte er mit mehrern luſtigen Bruͤdern bis fruͤh um fuͤnf Uhr gezecht. Er ſah dann nach der Uhr, ſprang auf, und ſagte: „es iſt Zeit, daß ich nach Hauſe gehe, mich anzukleiden: denn dieſen Morgen muß ich Meſſe leſen: es iſt heute ein hohes Feſt.„ Was, Meſſe leſen? ſchrieen die Andern: Sie ſind ja nicht mehr nuͤchtern! Schneider lachte, und geſtand, daß er ſich ſeit langer Zeit her nicht erinnern koͤnne, Meſſe nuͤch- tern geleſen zu haben: er pflege immer vorher ein Glas Wein, oder des etwas zu trinken. Wirklich ging er auch nach der Domkirche und las ſeine Meſſe. — Man muß naͤmlich wiſſen, daß, nach Vorſchrift der katholiſchen Kirche, jeder Prieſter, der Meſſe leſen, wie jeder geſunde Laie, der zum Abendmahl gehen will, nuͤchtern ſeyn muͤſſe, das heißt, er darf von Mitternacht an nichts ge- geſſen oder getrunken haben.
Die Geſellſchaft war ſehr gemiſcht: Schnei- der hatte Feinde darin; und nun wurde, wie man leicht denken kann, in der ganzen Stadt aus- geſprengt: der Vikarius des Biſchofs, Herr Schneider, habe ein Sakrilegium begangen! Er habe, ohne nuͤchtern geweſen zu ſeyn, Meſſe geleſen! Das ſey ein allerliebſter Geiſtlicher, ein
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fand ſich bey dem ſeinigen wohl, doch verſprach
er, in Zukunft behutſamer zu werden.
Eines Tages hatte er mit mehrern luſtigen
Bruͤdern bis fruͤh um fuͤnf Uhr gezecht. Er ſah
dann nach der Uhr, ſprang auf, und ſagte: „es iſt
Zeit, daß ich nach Hauſe gehe, mich anzukleiden:
denn dieſen Morgen muß ich Meſſe leſen: es iſt
heute ein hohes Feſt.„ Was, Meſſe leſen? ſchrieen
die Andern: Sie ſind ja nicht mehr nuͤchtern!
Schneider lachte, und geſtand, daß er ſich ſeit
langer Zeit her nicht erinnern koͤnne, Meſſe nuͤch-
tern geleſen zu haben: er pflege immer vorher ein
Glas Wein, oder des etwas zu trinken. Wirklich
ging er auch nach der Domkirche und las ſeine
Meſſe. — Man muß naͤmlich wiſſen, daß, nach
Vorſchrift der katholiſchen Kirche, jeder Prieſter,
der Meſſe leſen, wie jeder geſunde Laie, der zum
Abendmahl gehen will, nuͤchtern ſeyn muͤſſe,
das heißt, er darf von Mitternacht an nichts ge-
geſſen oder getrunken haben.
Die Geſellſchaft war ſehr gemiſcht: Schnei-
der hatte Feinde darin; und nun wurde, wie
man leicht denken kann, in der ganzen Stadt aus-
geſprengt: der Vikarius des Biſchofs, Herr
Schneider, habe ein Sakrilegium begangen!
Er habe, ohne nuͤchtern geweſen zu ſeyn, Meſſe
geleſen! Das ſey ein allerliebſter Geiſtlicher, ein
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,1. Leipzig, 1797, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0401_1797/200>, abgerufen am 24.11.2024.
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