Kunst nichts, gar nichts. Denn die Liebhabereien Einzelner, die mitunter kolossal erscheinen, weil man sehr reich ist, sind Einzelnes, das eigentlich Natio- nale hat damit nichts zu schaffen. Und wer in der Bildung frei und unbefangen geworden ist, der wird im Parlamente wie eben ein Anderer in den mora- lischen und religiösen Jargon einstimmen, weil er sich fürchtet, fürchtet theils vor den bornirten Ge- nossen, theils vor dem Volke selbst. Er wagt es nicht, dafür einen Schritt zu thun, daß dies Volk selbst einmal über seine niedrigen hölzernen Kirch- stühle hinwegsähe, und so hält sich das freiste Volk mit geläufiger Formel in ärgster Sklaverei des bor- nirten Gedankens. Sie haben Shakespeare ignorirt, bis sie Garrik mit eminentem Talente dazu verführt hat, und wäre das rein Englische nicht so allge- waltig im großen William ausgeprägt, wir würden wunderliche Dinge hören; jedenfalls ist dieser eng- lische Dichter in Teutschland bergehoch größer und richtiger gewürdigt als in England. Sie haben Shelley ausgestoßen und in den Tod gejagt, sie haben Byron zu Tode gemartert -- das ist das freie England. Ordinaire bürgerliche Verwaltung,
Kunſt nichts, gar nichts. Denn die Liebhabereien Einzelner, die mitunter koloſſal erſcheinen, weil man ſehr reich iſt, ſind Einzelnes, das eigentlich Natio- nale hat damit nichts zu ſchaffen. Und wer in der Bildung frei und unbefangen geworden iſt, der wird im Parlamente wie eben ein Anderer in den mora- liſchen und religioͤſen Jargon einſtimmen, weil er ſich fuͤrchtet, fuͤrchtet theils vor den bornirten Ge- noſſen, theils vor dem Volke ſelbſt. Er wagt es nicht, dafuͤr einen Schritt zu thun, daß dies Volk ſelbſt einmal uͤber ſeine niedrigen hoͤlzernen Kirch- ſtuͤhle hinwegſaͤhe, und ſo haͤlt ſich das freiſte Volk mit gelaͤufiger Formel in aͤrgſter Sklaverei des bor- nirten Gedankens. Sie haben Shakeſpeare ignorirt, bis ſie Garrik mit eminentem Talente dazu verfuͤhrt hat, und waͤre das rein Engliſche nicht ſo allge- waltig im großen William ausgepraͤgt, wir wuͤrden wunderliche Dinge hoͤren; jedenfalls iſt dieſer eng- liſche Dichter in Teutſchland bergehoch groͤßer und richtiger gewuͤrdigt als in England. Sie haben Shelley ausgeſtoßen und in den Tod gejagt, ſie haben Byron zu Tode gemartert — das iſt das freie England. Ordinaire buͤrgerliche Verwaltung,
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Kunſt nichts, gar nichts. Denn die Liebhabereien
Einzelner, die mitunter koloſſal erſcheinen, weil man
ſehr reich iſt, ſind Einzelnes, das eigentlich Natio-
nale hat damit nichts zu ſchaffen. Und wer in der
Bildung frei und unbefangen geworden iſt, der wird
im Parlamente wie eben ein Anderer in den mora-
liſchen und religioͤſen Jargon einſtimmen, weil er
ſich fuͤrchtet, fuͤrchtet theils vor den bornirten Ge-
noſſen, theils vor dem Volke ſelbſt. Er wagt es
nicht, dafuͤr einen Schritt zu thun, daß dies Volk
ſelbſt einmal uͤber ſeine niedrigen hoͤlzernen Kirch-
ſtuͤhle hinwegſaͤhe, und ſo haͤlt ſich das freiſte Volk
mit gelaͤufiger Formel in aͤrgſter Sklaverei des bor-
nirten Gedankens. Sie haben Shakeſpeare ignorirt,
bis ſie Garrik mit eminentem Talente dazu verfuͤhrt
hat, und waͤre das rein Engliſche nicht ſo allge-
waltig im großen William ausgepraͤgt, wir wuͤrden
wunderliche Dinge hoͤren; jedenfalls iſt dieſer eng-
liſche Dichter in Teutſchland bergehoch groͤßer und
richtiger gewuͤrdigt als in England. Sie haben
Shelley ausgeſtoßen und in den Tod gejagt, ſie
haben Byron zu Tode gemartert — das iſt das
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa03_1837/215>, abgerufen am 26.11.2024.
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