Es sind wieder viele, viele Tage vergangen, ohne daß ich Dir schreiben konnte; die Mittel, Papier zu erlangen, waren alle versiegt, jetzt ist wieder ein Fetzen, wenn auch grau und schmutzig, in meiner Hand. Jch sage nichts mehr über jene erste Zeit des hiesigen Kerkers, ich weiß nichts mehr, ich habe nicht geweint und nicht geklagt, Thränen gibt es nur, wenn wir die Hilfe des Leids in der Nähe glauben, wenn das Leid in unsere Vorstellung und Fähigkeit des Schmerzes paßt, wenn das Leid uns natürlich bleibt. Jch litt damals dergestalt, daß ich nicht daran gedacht habe, es fehlten mir Bücher und Schreibmaterial, und sie könnten mir wohl- thätig sein, Gott mag es wissen, wie doch die langen Tage und Nächte an mir vorübergezogen sind -- sie sind's doch; dessen erinnere ich mich, daß ich zuweilen den Schemel auf den Tisch gestellt habe, um zu dem versetzten kleinen Fenster hinauf zu kom- men, um durch die schmale Lücke, welche oben offen blieb, den Streifen blauen Himmels zu sehen, nach dem ich dürstete, wie ein Wüstenreisender nach einer Wolke dürsten mag. Jch hoffte immer, die Sonne müsse einmal diese meine Linie passiren, ach ich
Es ſind wieder viele, viele Tage vergangen, ohne daß ich Dir ſchreiben konnte; die Mittel, Papier zu erlangen, waren alle verſiegt, jetzt iſt wieder ein Fetzen, wenn auch grau und ſchmutzig, in meiner Hand. Jch ſage nichts mehr über jene erſte Zeit des hieſigen Kerkers, ich weiß nichts mehr, ich habe nicht geweint und nicht geklagt, Thränen gibt es nur, wenn wir die Hilfe des Leids in der Nähe glauben, wenn das Leid in unſere Vorſtellung und Fähigkeit des Schmerzes paßt, wenn das Leid uns natürlich bleibt. Jch litt damals dergeſtalt, daß ich nicht daran gedacht habe, es fehlten mir Bücher und Schreibmaterial, und ſie könnten mir wohl- thätig ſein, Gott mag es wiſſen, wie doch die langen Tage und Nächte an mir vorübergezogen ſind — ſie ſind’s doch; deſſen erinnere ich mich, daß ich zuweilen den Schemel auf den Tiſch geſtellt habe, um zu dem verſetzten kleinen Fenſter hinauf zu kom- men, um durch die ſchmale Lücke, welche oben offen blieb, den Streifen blauen Himmels zu ſehen, nach dem ich dürſtete, wie ein Wüſtenreiſender nach einer Wolke dürſten mag. Jch hoffte immer, die Sonne müſſe einmal dieſe meine Linie paſſiren, ach ich
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Es ſind wieder viele, viele Tage vergangen, ohne
daß ich Dir ſchreiben konnte; die Mittel, Papier
zu erlangen, waren alle verſiegt, jetzt iſt wieder ein
Fetzen, wenn auch grau und ſchmutzig, in meiner
Hand. Jch ſage nichts mehr über jene erſte Zeit
des hieſigen Kerkers, ich weiß nichts mehr, ich habe
nicht geweint und nicht geklagt, Thränen gibt es
nur, wenn wir die Hilfe des Leids in der Nähe
glauben, wenn das Leid in unſere Vorſtellung und
Fähigkeit des Schmerzes paßt, wenn das Leid uns
natürlich bleibt. Jch litt damals dergeſtalt, daß
ich nicht daran gedacht habe, es fehlten mir Bücher
und Schreibmaterial, und ſie könnten mir wohl-
thätig ſein, Gott mag es wiſſen, wie doch die langen
Tage und Nächte an mir vorübergezogen ſind —
ſie ſind’s doch; deſſen erinnere ich mich, daß ich
zuweilen den Schemel auf den Tiſch geſtellt habe,
um zu dem verſetzten kleinen Fenſter hinauf zu kom-
men, um durch die ſchmale Lücke, welche oben offen
blieb, den Streifen blauen Himmels zu ſehen, nach
dem ich dürſtete, wie ein Wüſtenreiſender nach einer
Wolke dürſten mag. Jch hoffte immer, die Sonne
müſſe einmal dieſe meine Linie paſſiren, ach ich
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa03_1837/125>, abgerufen am 22.11.2024.
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