einer zeitgemäßen Religion? Die Religion einer jeden Zeit ist die zeitgemäße. Du raisonnirst über die Pfaf¬ fen, die sich so gemächlich in ihrem alten Dachsbau bewegen und willst doch am Ende einen neuen dito anlegen. Sowie man über Religion spricht und schreibt, kommt gewiß etwas Verkehrtes heraus, was dem Spre¬ chenden oder Schreibenden fremd ist; es geht einem wie der Kassandra, aber anders, die Worte werden im Munde verdreht. Es ist, als sollte man dergleichen nicht besprechen wie die nächste Wollschur oder Weinlese. Wenn ich an einem schönen Tage oder auch in einem anständigen trocknen Sturme mit offnem Rock spaziren gehe, in ein friedliches Menschenantlitz sehe; wenn ich eine tüchtige, nicht nach Knalleffekt haschende Musik höre, ein duftiges Gemälde oder eine Statue mit reinen schö¬ nen Formen anblicke; wenn ich endlich eine recht lu¬ stige, sich ganz gehen lassende Gesellschaft sehe: da weiß ich so klar mit und in dem Himmel Bescheid, daß es eine wahre Freude ist. Sowie ich dagegen noch so ge¬ sammelt, durchgesehen und verbessert von Gott, Reli¬ gion etc. spreche oder schreibe, flugs ist eine Albernheit mehr in der Welt. Auch mir war noch vor Kurzem das Christenthum als Conglomerat von Dogmen nichts mehr
einer zeitgemäßen Religion? Die Religion einer jeden Zeit iſt die zeitgemäße. Du raiſonnirſt über die Pfaf¬ fen, die ſich ſo gemächlich in ihrem alten Dachsbau bewegen und willſt doch am Ende einen neuen dito anlegen. Sowie man über Religion ſpricht und ſchreibt, kommt gewiß etwas Verkehrtes heraus, was dem Spre¬ chenden oder Schreibenden fremd iſt; es geht einem wie der Kaſſandra, aber anders, die Worte werden im Munde verdreht. Es iſt, als ſollte man dergleichen nicht beſprechen wie die nächſte Wollſchur oder Weinleſe. Wenn ich an einem ſchönen Tage oder auch in einem anſtändigen trocknen Sturme mit offnem Rock ſpaziren gehe, in ein friedliches Menſchenantlitz ſehe; wenn ich eine tüchtige, nicht nach Knalleffekt haſchende Muſik höre, ein duftiges Gemälde oder eine Statue mit reinen ſchö¬ nen Formen anblicke; wenn ich endlich eine recht lu¬ ſtige, ſich ganz gehen laſſende Geſellſchaft ſehe: da weiß ich ſo klar mit und in dem Himmel Beſcheid, daß es eine wahre Freude iſt. Sowie ich dagegen noch ſo ge¬ ſammelt, durchgeſehen und verbeſſert von Gott, Reli¬ gion ꝛc. ſpreche oder ſchreibe, flugs iſt eine Albernheit mehr in der Welt. Auch mir war noch vor Kurzem das Chriſtenthum als Conglomerat von Dogmen nichts mehr
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0090"n="78"/>
einer zeitgemäßen Religion? Die Religion einer jeden<lb/>
Zeit iſt die zeitgemäße. Du raiſonnirſt über die Pfaf¬<lb/>
fen, die ſich ſo gemächlich in ihrem alten Dachsbau<lb/>
bewegen und willſt doch am Ende einen neuen <hirendition="#aq">dito</hi><lb/>
anlegen. Sowie man über Religion ſpricht und ſchreibt,<lb/>
kommt gewiß etwas Verkehrtes heraus, was dem Spre¬<lb/>
chenden oder Schreibenden fremd iſt; es geht einem wie<lb/>
der Kaſſandra, aber anders, die Worte werden im<lb/>
Munde verdreht. Es iſt, als ſollte man dergleichen<lb/>
nicht beſprechen wie die nächſte Wollſchur oder Weinleſe.<lb/>
Wenn ich an einem ſchönen Tage oder auch in einem<lb/>
anſtändigen trocknen Sturme mit offnem Rock ſpaziren<lb/>
gehe, in ein friedliches Menſchenantlitz ſehe; wenn ich<lb/>
eine tüchtige, nicht nach Knalleffekt haſchende Muſik höre,<lb/>
ein duftiges Gemälde oder eine Statue mit reinen ſchö¬<lb/>
nen Formen anblicke; wenn ich endlich eine recht lu¬<lb/>ſtige, ſich ganz gehen laſſende Geſellſchaft ſehe: da weiß<lb/>
ich ſo klar mit und in dem Himmel Beſcheid, daß es<lb/>
eine wahre Freude iſt. Sowie ich dagegen noch ſo ge¬<lb/>ſammelt, durchgeſehen und verbeſſert von Gott, Reli¬<lb/>
gion ꝛc. ſpreche oder ſchreibe, flugs iſt eine Albernheit<lb/>
mehr in der Welt. Auch mir war noch vor Kurzem das<lb/>
Chriſtenthum als Conglomerat von Dogmen nichts mehr<lb/></p></div></body></text></TEI>
[78/0090]
einer zeitgemäßen Religion? Die Religion einer jeden
Zeit iſt die zeitgemäße. Du raiſonnirſt über die Pfaf¬
fen, die ſich ſo gemächlich in ihrem alten Dachsbau
bewegen und willſt doch am Ende einen neuen dito
anlegen. Sowie man über Religion ſpricht und ſchreibt,
kommt gewiß etwas Verkehrtes heraus, was dem Spre¬
chenden oder Schreibenden fremd iſt; es geht einem wie
der Kaſſandra, aber anders, die Worte werden im
Munde verdreht. Es iſt, als ſollte man dergleichen
nicht beſprechen wie die nächſte Wollſchur oder Weinleſe.
Wenn ich an einem ſchönen Tage oder auch in einem
anſtändigen trocknen Sturme mit offnem Rock ſpaziren
gehe, in ein friedliches Menſchenantlitz ſehe; wenn ich
eine tüchtige, nicht nach Knalleffekt haſchende Muſik höre,
ein duftiges Gemälde oder eine Statue mit reinen ſchö¬
nen Formen anblicke; wenn ich endlich eine recht lu¬
ſtige, ſich ganz gehen laſſende Geſellſchaft ſehe: da weiß
ich ſo klar mit und in dem Himmel Beſcheid, daß es
eine wahre Freude iſt. Sowie ich dagegen noch ſo ge¬
ſammelt, durchgeſehen und verbeſſert von Gott, Reli¬
gion ꝛc. ſpreche oder ſchreibe, flugs iſt eine Albernheit
mehr in der Welt. Auch mir war noch vor Kurzem das
Chriſtenthum als Conglomerat von Dogmen nichts mehr
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/90>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.