langen kann, daß sich unsere heutige Gesellschaft mit einem Gesetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen soll, so wenig kann ich die unantastbare Stabilität ver¬ alteter Moralgesetze verlangen. Die Vorbedingungen sind verändert, und die Folgerungen sollten noch jenen gemäß bestehen? Alle unsere Philosophen sind leider, nachdem man sie getauft und konfirmirt hat, in der Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die Wenigen, welche sich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬ ten haben, werden überschrien von der Menge -- all' unsere Wissenschaft ist kirchlich infizirt. Daher sind un¬ sere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬ drücke der früheren Platte geworden. Die sogenannten Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und nicht den zu prüfen. Dahinein gehören fast alle Leute der höheren Bildung; daher das Geschrei der Pfaffen über die wechselnde Gleichgültigkeit in religiösen Din¬ gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und Gewährleistungen entspringt sie und wird nur mit die¬ sem gehoben. Daher auch die Erscheinung, daß Leute mit unruhigerem Blute und geringerer Geistes- und Seelenstärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬ waltige Auseinandergehen der herrschend gewordenen Le¬
langen kann, daß ſich unſere heutige Geſellſchaft mit einem Geſetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen ſoll, ſo wenig kann ich die unantaſtbare Stabilität ver¬ alteter Moralgeſetze verlangen. Die Vorbedingungen ſind verändert, und die Folgerungen ſollten noch jenen gemäß beſtehen? Alle unſere Philoſophen ſind leider, nachdem man ſie getauft und konfirmirt hat, in der Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die Wenigen, welche ſich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬ ten haben, werden überſchrien von der Menge — all' unſere Wiſſenſchaft iſt kirchlich infizirt. Daher ſind un¬ ſere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬ drücke der früheren Platte geworden. Die ſogenannten Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und nicht den zu prüfen. Dahinein gehören faſt alle Leute der höheren Bildung; daher das Geſchrei der Pfaffen über die wechſelnde Gleichgültigkeit in religiöſen Din¬ gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und Gewährleiſtungen entſpringt ſie und wird nur mit die¬ ſem gehoben. Daher auch die Erſcheinung, daß Leute mit unruhigerem Blute und geringerer Geiſtes- und Seelenſtärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬ waltige Auseinandergehen der herrſchend gewordenen Le¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0150"n="138"/>
langen kann, daß ſich unſere heutige Geſellſchaft mit<lb/>
einem Geſetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen<lb/>ſoll, ſo wenig kann ich die unantaſtbare Stabilität ver¬<lb/>
alteter Moralgeſetze verlangen. Die Vorbedingungen<lb/>ſind verändert, und die Folgerungen ſollten noch jenen<lb/>
gemäß beſtehen? Alle unſere Philoſophen ſind leider,<lb/>
nachdem man ſie getauft und konfirmirt hat, in der<lb/>
Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die<lb/>
Wenigen, welche ſich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬<lb/>
ten haben, werden überſchrien von der Menge — all'<lb/>
unſere Wiſſenſchaft iſt kirchlich infizirt. Daher ſind un¬<lb/>ſere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬<lb/>
drücke der früheren Platte geworden. Die ſogenannten<lb/>
Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und<lb/>
nicht den zu prüfen. Dahinein gehören faſt alle Leute<lb/>
der höheren Bildung; daher das Geſchrei der Pfaffen<lb/>
über die wechſelnde Gleichgültigkeit in religiöſen Din¬<lb/>
gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und<lb/>
Gewährleiſtungen entſpringt ſie und wird nur mit die¬<lb/>ſem gehoben. Daher auch die Erſcheinung, daß Leute<lb/>
mit unruhigerem Blute und geringerer Geiſtes- und<lb/>
Seelenſtärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬<lb/>
waltige Auseinandergehen der herrſchend gewordenen Le¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[138/0150]
langen kann, daß ſich unſere heutige Geſellſchaft mit
einem Geſetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen
ſoll, ſo wenig kann ich die unantaſtbare Stabilität ver¬
alteter Moralgeſetze verlangen. Die Vorbedingungen
ſind verändert, und die Folgerungen ſollten noch jenen
gemäß beſtehen? Alle unſere Philoſophen ſind leider,
nachdem man ſie getauft und konfirmirt hat, in der
Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die
Wenigen, welche ſich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬
ten haben, werden überſchrien von der Menge — all'
unſere Wiſſenſchaft iſt kirchlich infizirt. Daher ſind un¬
ſere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬
drücke der früheren Platte geworden. Die ſogenannten
Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und
nicht den zu prüfen. Dahinein gehören faſt alle Leute
der höheren Bildung; daher das Geſchrei der Pfaffen
über die wechſelnde Gleichgültigkeit in religiöſen Din¬
gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und
Gewährleiſtungen entſpringt ſie und wird nur mit die¬
ſem gehoben. Daher auch die Erſcheinung, daß Leute
mit unruhigerem Blute und geringerer Geiſtes- und
Seelenſtärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬
waltige Auseinandergehen der herrſchend gewordenen Le¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/150>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.