lebe heute noch und könne nicht sterben, bis die Mutter Schönknechten sich zum ersten Male im Grabe umwenden werde.
Wie abgeschmackt dergleichen Dinge am heutigen lich- ten Tage erscheinen, sie wurden doch in mir lebendig, als ich, von einer Reise heimkehrend, das Meinhold'sche Buch von der "Marie Schweidler" auf meinem Tische fand und in das Lesen desselben hineingerieth. Wir können ja doch die Eindrücke unsrer Lebensgeschichte nicht verlieren, wie wenig auch eine später erworbene Bildung dazu stimmen mag. Sie gehören zu unserm Körper, welchen keine Me- dizin oder Brunnenkur jemals ganz ändern kann, sie ge- hören zu unsern Anlagen, die niemals ganz überbaut werden können. Jedermann hat solch einen Punkt in sich welcher Wahnsinn genannt wird, sobald er sich einmal unbekümmert um die herrschenden Grundsätze ausbreitet und geltend macht. Wenigstens wird, er fixe Jdee, wenn das Jndividuum passiver Natur ist und nicht sein Leben zum gesetzgeberischen Leben durchsetzen will, was eine ener- gische Natur alle Zeit zu thun getrieben ist.
So weit trieb es denn nun wohl die Hexen-Erinne- rung mit mir nicht, eben weil es nur eine ferne Erinne- rung sein konnte. Jch hatte ja ohne Zuthun nur zuge- schaut und zugehört in früher Jugend, ich hatte also nur Empfänglichkeit, nicht aber ein Organ der Thätigkeit dafür. Ein einziges Mal im späteren Leben hatte der kuriose Ver- kehr mit der Geisterwelt ein Pförtchen zu thätiger Theil-
Einleitung.
lebe heute noch und koͤnne nicht ſterben, bis die Mutter Schoͤnknechten ſich zum erſten Male im Grabe umwenden werde.
Wie abgeſchmackt dergleichen Dinge am heutigen lich- ten Tage erſcheinen, ſie wurden doch in mir lebendig, als ich, von einer Reiſe heimkehrend, das Meinhold’ſche Buch von der „Marie Schweidler“ auf meinem Tiſche fand und in das Leſen deſſelben hineingerieth. Wir koͤnnen ja doch die Eindruͤcke unſrer Lebensgeſchichte nicht verlieren, wie wenig auch eine ſpaͤter erworbene Bildung dazu ſtimmen mag. Sie gehoͤren zu unſerm Koͤrper, welchen keine Me- dizin oder Brunnenkur jemals ganz aͤndern kann, ſie ge- hoͤren zu unſern Anlagen, die niemals ganz uͤberbaut werden koͤnnen. Jedermann hat ſolch einen Punkt in ſich welcher Wahnſinn genannt wird, ſobald er ſich einmal unbekuͤmmert um die herrſchenden Grundſaͤtze ausbreitet und geltend macht. Wenigſtens wird, er fixe Jdee, wenn das Jndividuum paſſiver Natur iſt und nicht ſein Leben zum geſetzgeberiſchen Leben durchſetzen will, was eine ener- giſche Natur alle Zeit zu thun getrieben iſt.
So weit trieb es denn nun wohl die Hexen-Erinne- rung mit mir nicht, eben weil es nur eine ferne Erinne- rung ſein konnte. Jch hatte ja ohne Zuthun nur zuge- ſchaut und zugehoͤrt in fruͤher Jugend, ich hatte alſo nur Empfaͤnglichkeit, nicht aber ein Organ der Thaͤtigkeit dafuͤr. Ein einziges Mal im ſpaͤteren Leben hatte der kurioſe Ver- kehr mit der Geiſterwelt ein Pfoͤrtchen zu thaͤtiger Theil-
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Einleitung.
lebe heute noch und koͤnne nicht ſterben, bis die Mutter
Schoͤnknechten ſich zum erſten Male im Grabe umwenden
werde.
Wie abgeſchmackt dergleichen Dinge am heutigen lich-
ten Tage erſcheinen, ſie wurden doch in mir lebendig, als
ich, von einer Reiſe heimkehrend, das Meinhold’ſche Buch
von der „Marie Schweidler“ auf meinem Tiſche fand und
in das Leſen deſſelben hineingerieth. Wir koͤnnen ja doch
die Eindruͤcke unſrer Lebensgeſchichte nicht verlieren, wie
wenig auch eine ſpaͤter erworbene Bildung dazu ſtimmen
mag. Sie gehoͤren zu unſerm Koͤrper, welchen keine Me-
dizin oder Brunnenkur jemals ganz aͤndern kann, ſie ge-
hoͤren zu unſern Anlagen, die niemals ganz uͤberbaut
werden koͤnnen. Jedermann hat ſolch einen Punkt in ſich
welcher Wahnſinn genannt wird, ſobald er ſich einmal
unbekuͤmmert um die herrſchenden Grundſaͤtze ausbreitet
und geltend macht. Wenigſtens wird, er fixe Jdee, wenn
das Jndividuum paſſiver Natur iſt und nicht ſein Leben
zum geſetzgeberiſchen Leben durchſetzen will, was eine ener-
giſche Natur alle Zeit zu thun getrieben iſt.
So weit trieb es denn nun wohl die Hexen-Erinne-
rung mit mir nicht, eben weil es nur eine ferne Erinne-
rung ſein konnte. Jch hatte ja ohne Zuthun nur zuge-
ſchaut und zugehoͤrt in fruͤher Jugend, ich hatte alſo nur
Empfaͤnglichkeit, nicht aber ein Organ der Thaͤtigkeit dafuͤr.
Ein einziges Mal im ſpaͤteren Leben hatte der kurioſe Ver-
kehr mit der Geiſterwelt ein Pfoͤrtchen zu thaͤtiger Theil-
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Laube, Heinrich: Die Bernsteinhexe. Leipzig, 1846, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_bernsteinhexe_1846/24>, abgerufen am 02.03.2025.
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