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Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890.

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Selbstbiographische Studien.
dividuen imstande sind anzugeben, warum gerade
Fritz Müller am 10. August 1888, nachmittags 3 Uhr
12 Minuten, an dem Hause Gartenstraße 99 vor-
beiging, und wann Auguste Schultze ihre erste zarte
Seelenregung in ihr Tagebuch niederschrieb. Denn be-
kanntlich muß heutzutage jede Wissenschaft induktiv sein,
wenn sie etwas gelten soll; darum brauchen wir zuerst
den autobiographischen Stoff, Stoff und wieder
Stoff, dann werden wir auch die richtige Verwertung
finden.

Jch will nur daran erinnern, wie leicht es auf
diesem Wege wäre, das wichtige Problem des wahren
Normalmenschen zu lösen. Der Fortschritt der Mensch-
heit hängt davon ab. Bekanntlich hat niemand mehr
Zeit, individuell zu sein; Generalisierung und Massen-
produktion, das ist das Kulturziel. Man kam von der
Familie zum Staate, von der häuslichen Brotbereitung
zur Dampfmühle und Dampfbäckerei, vom privaten
Kienspan zur Gasanstalt, vom lehrenden Haussklaven
zur Volksschule und zur Staatsuniversität, von der Einzel-
wanderung zur Gesellschaftsreise. Man muß auf diesem
Wege fortschreiten. Centralheizung und Centralspeisung
sind nur eine Frage der Zeit. Welche volkswirtschaft-
liche Ersparnis aber müßte gewonnen werden, wenn
es gelänge, die für das Gefühlsleben so unentbehr-
lichen Zustände der lyrischen Produktion, der
Liebesschwärmerei
und der Katerstimmung der
Sorge des Jndividuums abzunehmen und zu centra-
lisieren, sei es nun durch Verstaatlichung oder durch

Selbſtbiographiſche Studien.
dividuen imſtande ſind anzugeben, warum gerade
Fritz Müller am 10. Auguſt 1888, nachmittags 3 Uhr
12 Minuten, an dem Hauſe Gartenſtraße 99 vor-
beiging, und wann Auguſte Schultze ihre erſte zarte
Seelenregung in ihr Tagebuch niederſchrieb. Denn be-
kanntlich muß heutzutage jede Wiſſenſchaft induktiv ſein,
wenn ſie etwas gelten ſoll; darum brauchen wir zuerſt
den autobiographiſchen Stoff, Stoff und wieder
Stoff, dann werden wir auch die richtige Verwertung
finden.

Jch will nur daran erinnern, wie leicht es auf
dieſem Wege wäre, das wichtige Problem des wahren
Normalmenſchen zu löſen. Der Fortſchritt der Menſch-
heit hängt davon ab. Bekanntlich hat niemand mehr
Zeit, individuell zu ſein; Generaliſierung und Maſſen-
produktion, das iſt das Kulturziel. Man kam von der
Familie zum Staate, von der häuslichen Brotbereitung
zur Dampfmühle und Dampfbäckerei, vom privaten
Kienſpan zur Gasanſtalt, vom lehrenden Hausſklaven
zur Volksſchule und zur Staatsuniverſität, von der Einzel-
wanderung zur Geſellſchaftsreiſe. Man muß auf dieſem
Wege fortſchreiten. Centralheizung und Centralſpeiſung
ſind nur eine Frage der Zeit. Welche volkswirtſchaft-
liche Erſparnis aber müßte gewonnen werden, wenn
es gelänge, die für das Gefühlsleben ſo unentbehr-
lichen Zuſtände der lyriſchen Produktion, der
Liebesſchwärmerei
und der Katerſtimmung der
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[247/0253] Selbſtbiographiſche Studien. dividuen imſtande ſind anzugeben, warum gerade Fritz Müller am 10. Auguſt 1888, nachmittags 3 Uhr 12 Minuten, an dem Hauſe Gartenſtraße 99 vor- beiging, und wann Auguſte Schultze ihre erſte zarte Seelenregung in ihr Tagebuch niederſchrieb. Denn be- kanntlich muß heutzutage jede Wiſſenſchaft induktiv ſein, wenn ſie etwas gelten ſoll; darum brauchen wir zuerſt den autobiographiſchen Stoff, Stoff und wieder Stoff, dann werden wir auch die richtige Verwertung finden. Jch will nur daran erinnern, wie leicht es auf dieſem Wege wäre, das wichtige Problem des wahren Normalmenſchen zu löſen. Der Fortſchritt der Menſch- heit hängt davon ab. Bekanntlich hat niemand mehr Zeit, individuell zu ſein; Generaliſierung und Maſſen- produktion, das iſt das Kulturziel. Man kam von der Familie zum Staate, von der häuslichen Brotbereitung zur Dampfmühle und Dampfbäckerei, vom privaten Kienſpan zur Gasanſtalt, vom lehrenden Hausſklaven zur Volksſchule und zur Staatsuniverſität, von der Einzel- wanderung zur Geſellſchaftsreiſe. Man muß auf dieſem Wege fortſchreiten. Centralheizung und Centralſpeiſung ſind nur eine Frage der Zeit. Welche volkswirtſchaft- liche Erſparnis aber müßte gewonnen werden, wenn es gelänge, die für das Gefühlsleben ſo unentbehr- lichen Zuſtände der lyriſchen Produktion, der Liebesſchwärmerei und der Katerſtimmung der Sorge des Jndividuums abzunehmen und zu centra- liſieren, ſei es nun durch Verſtaatlichung oder durch

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_seife_1890/253>, abgerufen am 22.11.2024.