Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Psychologisches Denken und objektive Gesetze.
mag auch der Würfel aus Marmor oder Holz bestehen, das
Viereck einen Körper von Wachs oder Eisen begrenzen.
Zahlen und Raum stellen Wirklichkeiten vor, die von den
sinnlichen Eigenschaften nicht berührt werden. Arithmetik
und Geometrie, jene frühzeitigen Früchte des griechischen
Geistes, bieten Gegenstände dar, welche eine neue Art des
Seins aufweisen, eine Art des Seins, die den sinnlich wahr-
nehmbaren Körpern nicht zukommt. So löst sich diese neue
Seinsart von der sinnlichen Wirklichkeit ab; sie ist das Sein im
Denken, das Sein des Begriffs. Und während die sinnlichen
Eigenschaften in unergründlichem Wechselreichtum unerfaßbar
durcheinander sich wirren, erscheinen sie als das Vergängliche,
Unklare, Unwirkliche; die mathematischen Formen dagegen,
Figur und Zahl, lassen sich klar vom Denken erfassen, sie sind
nur im Denken, aber eben dadurch ewig, sicher, real. Das
psychologische Denken entdeckt allgemeine Gesetze; was nach
diesen allgemeinen Gesetzen gedacht werden muß, ist als eine
Realität erkannt und gesichert, der nicht mehr das bloß sub-
jektiv-psychologische Sein, sondern objektive Geltung zukommt.

Soweit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissen-
schaftlicher Erkenntnis reicht, soweit haben wir Gesetzlich-
keit, soweit ist objektive Realität gewährleistet. Derartige Ge-
setze von allgemeiner Geltung werden zwar mit Hilfe der
Erfahrung aufgefunden, aber die Notwendigkeit und Allgemein-
giltigkeit kann ihnen nicht die Erfahrung leihen, sondern sie
müssen ihren Ursprung in etwas haben, das der Erfahrung zu
Grunde liegt und daher Apriori heißt. Das ist die Bedeutung
des Apriori; es ist der Ausdruck dafür, daß es objektive
Realitäten gibt, welche Bedingungen sind für die Möglichkeit
der Erfahrung.

Die Entdeckung, daß alle Realität in einem Apriori ge-
gründet sein muß, ist die Wurzel der Ideenlehre und der
unverlierbare Gedanke, welchen Platon in die Philosophie ein-
führte. Solche Kriterien der Gewißheit, welche nicht aus der
Sinnlichkeit begründet werden können, sind bei Platon die That-
sachen der sittlichen Wertschätzung, der allgemeinen Begriffe
und der mathematischen Beziehungen. Gleichviel, von welcher
dieser Voraussetzungen zur Möglichkeit der Erkenntnis sein
System den Ausgang genommen habe, in der Vollendung des-

Psychologisches Denken und objektive Gesetze.
mag auch der Würfel aus Marmor oder Holz bestehen, das
Viereck einen Körper von Wachs oder Eisen begrenzen.
Zahlen und Raum stellen Wirklichkeiten vor, die von den
sinnlichen Eigenschaften nicht berührt werden. Arithmetik
und Geometrie, jene frühzeitigen Früchte des griechischen
Geistes, bieten Gegenstände dar, welche eine neue Art des
Seins aufweisen, eine Art des Seins, die den sinnlich wahr-
nehmbaren Körpern nicht zukommt. So löst sich diese neue
Seinsart von der sinnlichen Wirklichkeit ab; sie ist das Sein im
Denken, das Sein des Begriffs. Und während die sinnlichen
Eigenschaften in unergründlichem Wechselreichtum unerfaßbar
durcheinander sich wirren, erscheinen sie als das Vergängliche,
Unklare, Unwirkliche; die mathematischen Formen dagegen,
Figur und Zahl, lassen sich klar vom Denken erfassen, sie sind
nur im Denken, aber eben dadurch ewig, sicher, real. Das
psychologische Denken entdeckt allgemeine Gesetze; was nach
diesen allgemeinen Gesetzen gedacht werden muß, ist als eine
Realität erkannt und gesichert, der nicht mehr das bloß sub-
jektiv-psychologische Sein, sondern objektive Geltung zukommt.

Soweit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissen-
schaftlicher Erkenntnis reicht, soweit haben wir Gesetzlich-
keit, soweit ist objektive Realität gewährleistet. Derartige Ge-
setze von allgemeiner Geltung werden zwar mit Hilfe der
Erfahrung aufgefunden, aber die Notwendigkeit und Allgemein-
giltigkeit kann ihnen nicht die Erfahrung leihen, sondern sie
müssen ihren Ursprung in etwas haben, das der Erfahrung zu
Grunde liegt und daher Apriori heißt. Das ist die Bedeutung
des Apriori; es ist der Ausdruck dafür, daß es objektive
Realitäten gibt, welche Bedingungen sind für die Möglichkeit
der Erfahrung.

Die Entdeckung, daß alle Realität in einem Apriori ge-
gründet sein muß, ist die Wurzel der Ideenlehre und der
unverlierbare Gedanke, welchen Platon in die Philosophie ein-
führte. Solche Kriterien der Gewißheit, welche nicht aus der
Sinnlichkeit begründet werden können, sind bei Platon die That-
sachen der sittlichen Wertschätzung, der allgemeinen Begriffe
und der mathematischen Beziehungen. Gleichviel, von welcher
dieser Voraussetzungen zur Möglichkeit der Erkenntnis sein
System den Ausgang genommen habe, in der Vollendung des-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0065" n="47"/><fw place="top" type="header">Psychologisches Denken und objektive Gesetze.</fw><lb/>
mag auch der Würfel aus Marmor oder Holz bestehen, das<lb/>
Viereck einen Körper von Wachs oder Eisen begrenzen.<lb/>
Zahlen und Raum stellen Wirklichkeiten vor, die von den<lb/>
sinnlichen Eigenschaften nicht berührt werden. Arithmetik<lb/>
und Geometrie, jene frühzeitigen Früchte des griechischen<lb/>
Geistes, bieten Gegenstände dar, welche eine neue Art des<lb/>
Seins aufweisen, eine Art des Seins, die den sinnlich wahr-<lb/>
nehmbaren Körpern nicht zukommt. So löst sich diese neue<lb/>
Seinsart von der sinnlichen Wirklichkeit ab; sie ist das Sein im<lb/>
Denken, das Sein des Begriffs. Und während die sinnlichen<lb/>
Eigenschaften in unergründlichem Wechselreichtum unerfaßbar<lb/>
durcheinander sich wirren, erscheinen sie als das Vergängliche,<lb/>
Unklare, Unwirkliche; die mathematischen Formen dagegen,<lb/>
Figur und Zahl, lassen sich klar vom Denken erfassen, sie sind<lb/>
nur im Denken, aber eben dadurch ewig, sicher, real. Das<lb/>
psychologische Denken entdeckt allgemeine Gesetze; was nach<lb/>
diesen allgemeinen Gesetzen gedacht werden muß, ist als eine<lb/>
Realität erkannt und gesichert, der nicht mehr das bloß sub-<lb/>
jektiv-psychologische Sein, sondern objektive Geltung zukommt.</p><lb/>
            <p>Soweit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissen-<lb/>
schaftlicher Erkenntnis reicht, soweit haben wir Gesetzlich-<lb/>
keit, soweit ist objektive Realität gewährleistet. Derartige Ge-<lb/>
setze von allgemeiner Geltung werden zwar mit Hilfe der<lb/>
Erfahrung aufgefunden, aber die Notwendigkeit und Allgemein-<lb/>
giltigkeit kann ihnen nicht die Erfahrung leihen, sondern sie<lb/>
müssen ihren Ursprung in etwas haben, das der Erfahrung zu<lb/>
Grunde liegt und daher Apriori heißt. Das ist die Bedeutung<lb/>
des Apriori; es ist der Ausdruck dafür, daß es objektive<lb/>
Realitäten gibt, welche Bedingungen sind für die Möglichkeit<lb/>
der Erfahrung.</p><lb/>
            <p>Die Entdeckung, daß alle Realität in einem Apriori ge-<lb/>
gründet sein muß, ist die Wurzel der Ideenlehre und der<lb/>
unverlierbare Gedanke, welchen <hi rendition="#k">Platon</hi> in die Philosophie ein-<lb/>
führte. Solche Kriterien der Gewißheit, welche nicht aus der<lb/>
Sinnlichkeit begründet werden können, sind bei <hi rendition="#k">Platon</hi> die That-<lb/>
sachen der sittlichen Wertschätzung, der allgemeinen Begriffe<lb/>
und der mathematischen Beziehungen. Gleichviel, von welcher<lb/>
dieser Voraussetzungen zur Möglichkeit der Erkenntnis sein<lb/>
System den Ausgang genommen habe, in der Vollendung des-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0065] Psychologisches Denken und objektive Gesetze. mag auch der Würfel aus Marmor oder Holz bestehen, das Viereck einen Körper von Wachs oder Eisen begrenzen. Zahlen und Raum stellen Wirklichkeiten vor, die von den sinnlichen Eigenschaften nicht berührt werden. Arithmetik und Geometrie, jene frühzeitigen Früchte des griechischen Geistes, bieten Gegenstände dar, welche eine neue Art des Seins aufweisen, eine Art des Seins, die den sinnlich wahr- nehmbaren Körpern nicht zukommt. So löst sich diese neue Seinsart von der sinnlichen Wirklichkeit ab; sie ist das Sein im Denken, das Sein des Begriffs. Und während die sinnlichen Eigenschaften in unergründlichem Wechselreichtum unerfaßbar durcheinander sich wirren, erscheinen sie als das Vergängliche, Unklare, Unwirkliche; die mathematischen Formen dagegen, Figur und Zahl, lassen sich klar vom Denken erfassen, sie sind nur im Denken, aber eben dadurch ewig, sicher, real. Das psychologische Denken entdeckt allgemeine Gesetze; was nach diesen allgemeinen Gesetzen gedacht werden muß, ist als eine Realität erkannt und gesichert, der nicht mehr das bloß sub- jektiv-psychologische Sein, sondern objektive Geltung zukommt. Soweit Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissen- schaftlicher Erkenntnis reicht, soweit haben wir Gesetzlich- keit, soweit ist objektive Realität gewährleistet. Derartige Ge- setze von allgemeiner Geltung werden zwar mit Hilfe der Erfahrung aufgefunden, aber die Notwendigkeit und Allgemein- giltigkeit kann ihnen nicht die Erfahrung leihen, sondern sie müssen ihren Ursprung in etwas haben, das der Erfahrung zu Grunde liegt und daher Apriori heißt. Das ist die Bedeutung des Apriori; es ist der Ausdruck dafür, daß es objektive Realitäten gibt, welche Bedingungen sind für die Möglichkeit der Erfahrung. Die Entdeckung, daß alle Realität in einem Apriori ge- gründet sein muß, ist die Wurzel der Ideenlehre und der unverlierbare Gedanke, welchen Platon in die Philosophie ein- führte. Solche Kriterien der Gewißheit, welche nicht aus der Sinnlichkeit begründet werden können, sind bei Platon die That- sachen der sittlichen Wertschätzung, der allgemeinen Begriffe und der mathematischen Beziehungen. Gleichviel, von welcher dieser Voraussetzungen zur Möglichkeit der Erkenntnis sein System den Ausgang genommen habe, in der Vollendung des-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/65
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/65>, abgerufen am 22.11.2024.