Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Lubin: Die sog. mathematischen Einwände.
eine Linie nicht aus zwei Punkten bestehen könne, weil der
Begriff der geraden Linie die Existenz einer Mitte voraussetzt,
so sei dies kein Einwand gegen die Atomistik, welche ja an-
erkennt, daß viele Tausende von Atomen dazu gehören, um
eine sinnlich vorstellbare Linie zu erzeugen. Allerdings besteht
die Linie nicht aus unendlich vielen Punkten -- was nicht
möglich ist --, sondern aus einer endlichen Anzahl. Wenn man
aber daraus folgern wolle, daß damit der mathematisch ge-
sicherte Begriff der Irrationalität aufgehoben werde, weil als-
dann alle Linien rationale Verhältnisse haben müßten, so sei
dies falsch. Die Irrationalität bleibt vielmehr für unser mensch-
liches Denken bestehen, da wir ja die thatsächliche Anzahl
der Punkte nicht kennen; zwei Größen sind inkommensurabel,
das heißt nur, wir sind nicht imstande ihr Verhältnis anzu-
geben, nicht aber, daß ein solches Verhältnis nicht bestände.
Wir nennen ein Verhältnis irrational, das anzugeben unser
Wissen nicht ausreicht.

Daß aus Punkten ein Quantum nicht entstehen könne,
wird durch die direkte Behauptung widerlegt, daß der Punkt
allerdings ein Quantum sei, und zwar das Prinzip der Quanti-
tät.1 Er erzeugt, wie schon früher gesagt, ebenso die Größe,
wie die Einheit die Zahl erzeugt. Damit fällt die Behauptung,
daß eine Linie von vier Punkten nicht größer sei als eine
solche von drei u. dgl. -- Auch daß eine Linie, die aus einer
ungeraden Anzahl von Punkten besteht, nicht in zwei gleiche
Teile geteilt werden könne, ist unrichtig. Es kann die Hal-
bierung ebensogut geschehen, wie man einen Scheffel Getreide
unter allen Umständen in zwei gleiche Teile teilen kann, da ein
paar Körner resp. Punkte mehr oder weniger für die Erkenn-
barkeit der Gleichheit durchaus nichts ausmachen. So gut
wie die Linie kann nun natürlich auch die Fläche und der
Körper aus Punkten bestehen.

Eine zweite Gruppe von Einwänden bilden diejenigen,
welche von den Arabern bevorzugt, durch R. Baco und Duns

1 A. a. O. p. 189. Respondeo vero et audacter adfirmo punctum quantum
esse, et in genere quantitatum omnium minimum, et habere initium, rationem,
naturam, conditionem et proprietatem quanti, et primam esse minimamque
quantitatem et principium esse quantitatis, prorsus ut unitas est numeri.

Lubin: Die sog. mathematischen Einwände.
eine Linie nicht aus zwei Punkten bestehen könne, weil der
Begriff der geraden Linie die Existenz einer Mitte voraussetzt,
so sei dies kein Einwand gegen die Atomistik, welche ja an-
erkennt, daß viele Tausende von Atomen dazu gehören, um
eine sinnlich vorstellbare Linie zu erzeugen. Allerdings besteht
die Linie nicht aus unendlich vielen Punkten — was nicht
möglich ist —, sondern aus einer endlichen Anzahl. Wenn man
aber daraus folgern wolle, daß damit der mathematisch ge-
sicherte Begriff der Irrationalität aufgehoben werde, weil als-
dann alle Linien rationale Verhältnisse haben müßten, so sei
dies falsch. Die Irrationalität bleibt vielmehr für unser mensch-
liches Denken bestehen, da wir ja die thatsächliche Anzahl
der Punkte nicht kennen; zwei Größen sind inkommensurabel,
das heißt nur, wir sind nicht imstande ihr Verhältnis anzu-
geben, nicht aber, daß ein solches Verhältnis nicht bestände.
Wir nennen ein Verhältnis irrational, das anzugeben unser
Wissen nicht ausreicht.

Daß aus Punkten ein Quantum nicht entstehen könne,
wird durch die direkte Behauptung widerlegt, daß der Punkt
allerdings ein Quantum sei, und zwar das Prinzip der Quanti-
tät.1 Er erzeugt, wie schon früher gesagt, ebenso die Größe,
wie die Einheit die Zahl erzeugt. Damit fällt die Behauptung,
daß eine Linie von vier Punkten nicht größer sei als eine
solche von drei u. dgl. — Auch daß eine Linie, die aus einer
ungeraden Anzahl von Punkten besteht, nicht in zwei gleiche
Teile geteilt werden könne, ist unrichtig. Es kann die Hal-
bierung ebensogut geschehen, wie man einen Scheffel Getreide
unter allen Umständen in zwei gleiche Teile teilen kann, da ein
paar Körner resp. Punkte mehr oder weniger für die Erkenn-
barkeit der Gleichheit durchaus nichts ausmachen. So gut
wie die Linie kann nun natürlich auch die Fläche und der
Körper aus Punkten bestehen.

Eine zweite Gruppe von Einwänden bilden diejenigen,
welche von den Arabern bevorzugt, durch R. Baco und Duns

1 A. a. O. p. 189. Respondeo vero et audacter adfirmo punctum quantum
esse, et in genere quantitatum omnium minimum, et habere initium, rationem,
naturam, conditionem et proprietatem quanti, et primam esse minimamque
quantitatem et principium esse quantitatis, prorsus ut unitas est numeri.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0426" n="408"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Lubin</hi>: Die sog. mathematischen Einwände.</fw><lb/>
eine Linie nicht aus zwei Punkten bestehen könne, weil der<lb/>
Begriff der geraden Linie die Existenz einer Mitte voraussetzt,<lb/>
so sei dies kein Einwand gegen die Atomistik, welche ja an-<lb/>
erkennt, daß viele Tausende von Atomen dazu gehören, um<lb/>
eine sinnlich vorstellbare Linie zu erzeugen. Allerdings besteht<lb/>
die Linie nicht aus unendlich vielen Punkten &#x2014; was nicht<lb/>
möglich ist &#x2014;, sondern aus einer endlichen Anzahl. Wenn man<lb/>
aber daraus folgern wolle, daß damit der mathematisch ge-<lb/>
sicherte Begriff der Irrationalität aufgehoben werde, weil als-<lb/>
dann alle Linien rationale Verhältnisse haben müßten, so sei<lb/>
dies falsch. Die Irrationalität bleibt vielmehr für unser mensch-<lb/>
liches Denken bestehen, da wir ja die thatsächliche Anzahl<lb/>
der Punkte nicht kennen; zwei Größen sind inkommensurabel,<lb/>
das heißt nur, wir sind nicht imstande ihr Verhältnis anzu-<lb/>
geben, nicht aber, daß ein solches Verhältnis nicht bestände.<lb/>
Wir nennen ein Verhältnis irrational, das anzugeben unser<lb/>
Wissen nicht ausreicht.</p><lb/>
            <p>Daß aus Punkten ein Quantum nicht entstehen könne,<lb/>
wird durch die direkte Behauptung widerlegt, daß der Punkt<lb/>
allerdings ein Quantum sei, und zwar das Prinzip der Quanti-<lb/>
tät.<note place="foot" n="1">A. a. O. p. 189. Respondeo vero et audacter adfirmo punctum quantum<lb/>
esse, et in genere quantitatum omnium minimum, et habere initium, rationem,<lb/>
naturam, conditionem et proprietatem quanti, et primam esse minimamque<lb/>
quantitatem et principium esse quantitatis, prorsus ut unitas est numeri.</note> Er erzeugt, wie schon früher gesagt, ebenso die Größe,<lb/>
wie die Einheit die Zahl erzeugt. Damit fällt die Behauptung,<lb/>
daß eine Linie von vier Punkten nicht größer sei als eine<lb/>
solche von drei u. dgl. &#x2014; Auch daß eine Linie, die aus einer<lb/>
ungeraden Anzahl von Punkten besteht, nicht in zwei gleiche<lb/>
Teile geteilt werden könne, ist unrichtig. Es kann die Hal-<lb/>
bierung ebensogut geschehen, wie man einen Scheffel Getreide<lb/>
unter allen Umständen in zwei gleiche Teile teilen kann, da ein<lb/>
paar Körner resp. Punkte mehr oder weniger für die Erkenn-<lb/>
barkeit der Gleichheit durchaus nichts ausmachen. So gut<lb/>
wie die Linie kann nun natürlich auch die Fläche und der<lb/>
Körper aus Punkten bestehen.</p><lb/>
            <p>Eine zweite Gruppe von Einwänden bilden diejenigen,<lb/>
welche von den Arabern bevorzugt, durch R. <hi rendition="#k">Baco</hi> und <hi rendition="#k">Duns</hi><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[408/0426] Lubin: Die sog. mathematischen Einwände. eine Linie nicht aus zwei Punkten bestehen könne, weil der Begriff der geraden Linie die Existenz einer Mitte voraussetzt, so sei dies kein Einwand gegen die Atomistik, welche ja an- erkennt, daß viele Tausende von Atomen dazu gehören, um eine sinnlich vorstellbare Linie zu erzeugen. Allerdings besteht die Linie nicht aus unendlich vielen Punkten — was nicht möglich ist —, sondern aus einer endlichen Anzahl. Wenn man aber daraus folgern wolle, daß damit der mathematisch ge- sicherte Begriff der Irrationalität aufgehoben werde, weil als- dann alle Linien rationale Verhältnisse haben müßten, so sei dies falsch. Die Irrationalität bleibt vielmehr für unser mensch- liches Denken bestehen, da wir ja die thatsächliche Anzahl der Punkte nicht kennen; zwei Größen sind inkommensurabel, das heißt nur, wir sind nicht imstande ihr Verhältnis anzu- geben, nicht aber, daß ein solches Verhältnis nicht bestände. Wir nennen ein Verhältnis irrational, das anzugeben unser Wissen nicht ausreicht. Daß aus Punkten ein Quantum nicht entstehen könne, wird durch die direkte Behauptung widerlegt, daß der Punkt allerdings ein Quantum sei, und zwar das Prinzip der Quanti- tät. 1 Er erzeugt, wie schon früher gesagt, ebenso die Größe, wie die Einheit die Zahl erzeugt. Damit fällt die Behauptung, daß eine Linie von vier Punkten nicht größer sei als eine solche von drei u. dgl. — Auch daß eine Linie, die aus einer ungeraden Anzahl von Punkten besteht, nicht in zwei gleiche Teile geteilt werden könne, ist unrichtig. Es kann die Hal- bierung ebensogut geschehen, wie man einen Scheffel Getreide unter allen Umständen in zwei gleiche Teile teilen kann, da ein paar Körner resp. Punkte mehr oder weniger für die Erkenn- barkeit der Gleichheit durchaus nichts ausmachen. So gut wie die Linie kann nun natürlich auch die Fläche und der Körper aus Punkten bestehen. Eine zweite Gruppe von Einwänden bilden diejenigen, welche von den Arabern bevorzugt, durch R. Baco und Duns 1 A. a. O. p. 189. Respondeo vero et audacter adfirmo punctum quantum esse, et in genere quantitatum omnium minimum, et habere initium, rationem, naturam, conditionem et proprietatem quanti, et primam esse minimamque quantitatem et principium esse quantitatis, prorsus ut unitas est numeri.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/426
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/426>, abgerufen am 25.11.2024.