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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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G. Brunos Atomistik. Berechtigung und Irrtum.
erforderlichen Aufbau gewonnen sind. In der Astronomie
können die Himmelskörper als Atome gelten. Es kommt
überall auf die Ordnung der Größen an, mit denen man es zu
thun hat, und die Entscheidung über die Grenzen des Minimums
liegt im Gegenstand der Untersuchung. Immer aber kann eine
solche Grenze gesetzt werden, die alsdann wegen der Überein-
stimmung von Denken und Sein auch absolute Geltung ge-
winnt. Im Minimum setzt das Denken im Interesse der nicht
mehr zureichenden sinnlichen Anschauung ein Wirklichkeits-
element, wodurch das Zerfließen des Seienden ins unbestimmt
Unendliche gehindert wird. Dieses letzte Minimum ist in der
Körperwelt das Atom, welches kugelförmig zu denken ist.
Es ist selbst ein Körper, bei dem man indes von allen zu-
fälligen Eigenschaften abstrahiert und nur auf die notwendigen
reflektiert.

Dies sind für das physikalische Atom unentbehrliche
Bestimmungen von dauernder Geltung. Was aber soll die
atomistische Mathematik? Zwischen den Körperatomen soll es
ja noch einen unterschiedslosen Äther geben. Danach wäre
der Raum nicht atomistisch zu fassen und jene Zerlegung der
mathematischen Figuren bezöge sich nur auf die starre körper-
liche Materie. In der That bildet der Äther und das Flüssige
überhaupt einen Gegensatz gegen das Starre und Trockene,
den festen Körper, und der Ausdruck "Atome" gilt ganz spe-
ziell für das Trockene.1

Wenn aber ein kontinuierlicher Äther, so zu sagen ein stetig-
flüssiger Raum existiert, warum muß dann die Mathematik auf
atomistische Grundlage zurückgeführt werden? In dem freien
Äther müßte ja doch eine wirkliche gerade Linie, ein mathe-

1 Acrotismus. De mundo. [Mundus sensibilis] ex nihilo a prima mente
productus intelligitur aut produci. (9.) Ejus materialia principia sunt Terra seu
Atomi seu Arida, Abissus seu Styx seu Oceanus, Spiritus seu aer seu coelum seu
firmamentum. (10.) Ejus prima accidentia (si tamen accidentia dici possunt)
sunt Tenebrae et lux, ex quibus subinde est ignis et caligo in genere, quae
nobis sunt secundaria elementa. Ferner Acrot. art. LXV. p. 113.: Inter haec
astra) ingenerabile incorruptibileque est aer immensus, utpote corpus spirituale
omnia stabiliens atque firmans, qui aut est prima substantia aut certe ex
omnibus illi proximus, qui primum est efficiens, ex atomis atque spiritu solidiora
spissioraque corpora (qualia sunt astra astrorumque membra) compaginans.

G. Brunos Atomistik. Berechtigung und Irrtum.
erforderlichen Aufbau gewonnen sind. In der Astronomie
können die Himmelskörper als Atome gelten. Es kommt
überall auf die Ordnung der Größen an, mit denen man es zu
thun hat, und die Entscheidung über die Grenzen des Minimums
liegt im Gegenstand der Untersuchung. Immer aber kann eine
solche Grenze gesetzt werden, die alsdann wegen der Überein-
stimmung von Denken und Sein auch absolute Geltung ge-
winnt. Im Minimum setzt das Denken im Interesse der nicht
mehr zureichenden sinnlichen Anschauung ein Wirklichkeits-
element, wodurch das Zerfließen des Seienden ins unbestimmt
Unendliche gehindert wird. Dieses letzte Minimum ist in der
Körperwelt das Atom, welches kugelförmig zu denken ist.
Es ist selbst ein Körper, bei dem man indes von allen zu-
fälligen Eigenschaften abstrahiert und nur auf die notwendigen
reflektiert.

Dies sind für das physikalische Atom unentbehrliche
Bestimmungen von dauernder Geltung. Was aber soll die
atomistische Mathematik? Zwischen den Körperatomen soll es
ja noch einen unterschiedslosen Äther geben. Danach wäre
der Raum nicht atomistisch zu fassen und jene Zerlegung der
mathematischen Figuren bezöge sich nur auf die starre körper-
liche Materie. In der That bildet der Äther und das Flüssige
überhaupt einen Gegensatz gegen das Starre und Trockene,
den festen Körper, und der Ausdruck „Atome‟ gilt ganz spe-
ziell für das Trockene.1

Wenn aber ein kontinuierlicher Äther, so zu sagen ein stetig-
flüssiger Raum existiert, warum muß dann die Mathematik auf
atomistische Grundlage zurückgeführt werden? In dem freien
Äther müßte ja doch eine wirkliche gerade Linie, ein mathe-

1 Acrotismus. De mundo. [Mundus sensibilis] ex nihilo a prima mente
productus intelligitur aut produci. (9.) Ejus materialia principia sunt Terra seu
Atomi seu Arida, Abissus seu Styx seu Oceanus, Spiritus seu aer seu coelum seu
firmamentum. (10.) Ejus prima accidentia (si tamen accidentia dici possunt)
sunt Tenebrae et lux, ex quibus subinde est ignis et caligo in genere, quae
nobis sunt secundaria elementa. Ferner Acrot. art. LXV. p. 113.: Inter haec
astra) ingenerabile incorruptibileque est aer immensus, utpote corpus spirituale
omnia stabiliens atque firmans, qui aut est prima substantia aut certe ex
omnibus illi proximus, qui primum est efficiens, ex atomis atque spiritu solidiora
spissioraque corpora (qualia sunt astra astrorumque membra) compaginans.
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[382/0400] G. Brunos Atomistik. Berechtigung und Irrtum. erforderlichen Aufbau gewonnen sind. In der Astronomie können die Himmelskörper als Atome gelten. Es kommt überall auf die Ordnung der Größen an, mit denen man es zu thun hat, und die Entscheidung über die Grenzen des Minimums liegt im Gegenstand der Untersuchung. Immer aber kann eine solche Grenze gesetzt werden, die alsdann wegen der Überein- stimmung von Denken und Sein auch absolute Geltung ge- winnt. Im Minimum setzt das Denken im Interesse der nicht mehr zureichenden sinnlichen Anschauung ein Wirklichkeits- element, wodurch das Zerfließen des Seienden ins unbestimmt Unendliche gehindert wird. Dieses letzte Minimum ist in der Körperwelt das Atom, welches kugelförmig zu denken ist. Es ist selbst ein Körper, bei dem man indes von allen zu- fälligen Eigenschaften abstrahiert und nur auf die notwendigen reflektiert. Dies sind für das physikalische Atom unentbehrliche Bestimmungen von dauernder Geltung. Was aber soll die atomistische Mathematik? Zwischen den Körperatomen soll es ja noch einen unterschiedslosen Äther geben. Danach wäre der Raum nicht atomistisch zu fassen und jene Zerlegung der mathematischen Figuren bezöge sich nur auf die starre körper- liche Materie. In der That bildet der Äther und das Flüssige überhaupt einen Gegensatz gegen das Starre und Trockene, den festen Körper, und der Ausdruck „Atome‟ gilt ganz spe- ziell für das Trockene. 1 Wenn aber ein kontinuierlicher Äther, so zu sagen ein stetig- flüssiger Raum existiert, warum muß dann die Mathematik auf atomistische Grundlage zurückgeführt werden? In dem freien Äther müßte ja doch eine wirkliche gerade Linie, ein mathe- 1 Acrotismus. De mundo. [Mundus sensibilis] ex nihilo a prima mente productus intelligitur aut produci. (9.) Ejus materialia principia sunt Terra seu Atomi seu Arida, Abissus seu Styx seu Oceanus, Spiritus seu aer seu coelum seu firmamentum. (10.) Ejus prima accidentia (si tamen accidentia dici possunt) sunt Tenebrae et lux, ex quibus subinde est ignis et caligo in genere, quae nobis sunt secundaria elementa. Ferner Acrot. art. LXV. p. 113.: Inter haec astra) ingenerabile incorruptibileque est aer immensus, utpote corpus spirituale omnia stabiliens atque firmans, qui aut est prima substantia aut certe ex omnibus illi proximus, qui primum est efficiens, ex atomis atque spiritu solidiora spissioraque corpora (qualia sunt astra astrorumque membra) compaginans.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/400>, abgerufen am 22.11.2024.