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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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G. Bruno: Relativität des Minimums.
mehr hat, weil es selbst der erste Teil, d. h. der An-
fang der Zusammensetzung,
die Grundbedingung der
Existenz ist. Natur und Kunst werden daher bei der Auflösung
nur bis dorthin vordringen können, wo die Zusammensetzung
anfing, d. h. wo keine Teile mehr vorhanden sind. Nicht weil
es ein Letztes der Teilung, sondern weil es ein Erstes, Unver-
änderliches und ein Maß der Dinge geben muss, existiert das
Atom. Bis wohin die Teilung fortschreiten kann, und wo sie
stehen bleiben muß, das läßt sich allerdings nicht angeben,
aber daß sie an einer bestimmten Stelle aufhören muß, daß
sie irgendwo auf das Unteilbare stößt, ist unzweifelhaft. Die
Unbestimmtheit über die Grenze der Teilbarkeit hat den Irr-
tum veranlaßt, daß sie ins Unendliche gehe; sie geht jedoch
nur ins Unbestimmte, weshalb auch umsichtigere Mathematiker
nicht von einer Teilung in infinitum sondern in indefinitum
sprechen. In der Vorstellung ist allerdings ein Progreß ins
Unendliche möglich, aber demselben kann weder in der Natur
noch in der praktischen Anwendung etwas entsprechen. In
der Natur muß es jedenfalls reale Anfänge geben, aus welchen
die Größe zusammenwächst; in der Praxis freilich wird es
willkürlich und von den Umständen abhängig sein, bei welcher
Grenze der Teilung man stehen bleibt; was das eine Mal als
erster Teil genommen wurde, kann ein ander Mal als letzter
behandelt werden, jedenfalls aber wird ohne einen ersten Teil
überhaupt nichts zustande kommen.1 Obgleich diese ersten
Teile bei räumlichen Dingen unter der Grenze des Sinnlichen
liegen, so kann doch das sinnlich unwahrnehmbare Minimum
nichtsdestoweniger Objekt der Betrachtung sein. Die Ge-
wißheit seiner Existenz entnehmen die Sinne nämlich der Be-
schaffenheit der sinnlichen Gegenstände und übertragen sie
durch das Denken auf die Minima.2

Daß das Minimum oder reale naturae weit unter den Gren-
zen der Sinnlichkeit liegt, wird durch ein aus Lukrez3 ent-
nommenes Beispiel erläutert, das wir, jedenfalls aus derselben

1 De min. I, 7. Schol. p. 28.
2 De min. I, 14. Schol. p. 52.
3 De nat. rer. 1. IV. v. 116--121. Vgl. die entsprechenden Stellen bei
Lubin, Sennert, Basso, Magnenus und den folgenden.
Laßwitz. 24

G. Bruno: Relativität des Minimums.
mehr hat, weil es selbst der erste Teil, d. h. der An-
fang der Zusammensetzung,
die Grundbedingung der
Existenz ist. Natur und Kunst werden daher bei der Auflösung
nur bis dorthin vordringen können, wo die Zusammensetzung
anfing, d. h. wo keine Teile mehr vorhanden sind. Nicht weil
es ein Letztes der Teilung, sondern weil es ein Erstes, Unver-
änderliches und ein Maß der Dinge geben muss, existiert das
Atom. Bis wohin die Teilung fortschreiten kann, und wo sie
stehen bleiben muß, das läßt sich allerdings nicht angeben,
aber daß sie an einer bestimmten Stelle aufhören muß, daß
sie irgendwo auf das Unteilbare stößt, ist unzweifelhaft. Die
Unbestimmtheit über die Grenze der Teilbarkeit hat den Irr-
tum veranlaßt, daß sie ins Unendliche gehe; sie geht jedoch
nur ins Unbestimmte, weshalb auch umsichtigere Mathematiker
nicht von einer Teilung in infinitum sondern in indefinitum
sprechen. In der Vorstellung ist allerdings ein Progreß ins
Unendliche möglich, aber demselben kann weder in der Natur
noch in der praktischen Anwendung etwas entsprechen. In
der Natur muß es jedenfalls reale Anfänge geben, aus welchen
die Größe zusammenwächst; in der Praxis freilich wird es
willkürlich und von den Umständen abhängig sein, bei welcher
Grenze der Teilung man stehen bleibt; was das eine Mal als
erster Teil genommen wurde, kann ein ander Mal als letzter
behandelt werden, jedenfalls aber wird ohne einen ersten Teil
überhaupt nichts zustande kommen.1 Obgleich diese ersten
Teile bei räumlichen Dingen unter der Grenze des Sinnlichen
liegen, so kann doch das sinnlich unwahrnehmbare Minimum
nichtsdestoweniger Objekt der Betrachtung sein. Die Ge-
wißheit seiner Existenz entnehmen die Sinne nämlich der Be-
schaffenheit der sinnlichen Gegenstände und übertragen sie
durch das Denken auf die Minima.2

Daß das Minimum oder reale naturae weit unter den Gren-
zen der Sinnlichkeit liegt, wird durch ein aus Lukrez3 ent-
nommenes Beispiel erläutert, das wir, jedenfalls aus derselben

1 De min. I, 7. Schol. p. 28.
2 De min. I, 14. Schol. p. 52.
3 De nat. rer. 1. IV. v. 116—121. Vgl. die entsprechenden Stellen bei
Lubin, Sennert, Basso, Magnenus und den folgenden.
Laßwitz. 24
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[369/0387] G. Bruno: Relativität des Minimums. mehr hat, weil es selbst der erste Teil, d. h. der An- fang der Zusammensetzung, die Grundbedingung der Existenz ist. Natur und Kunst werden daher bei der Auflösung nur bis dorthin vordringen können, wo die Zusammensetzung anfing, d. h. wo keine Teile mehr vorhanden sind. Nicht weil es ein Letztes der Teilung, sondern weil es ein Erstes, Unver- änderliches und ein Maß der Dinge geben muss, existiert das Atom. Bis wohin die Teilung fortschreiten kann, und wo sie stehen bleiben muß, das läßt sich allerdings nicht angeben, aber daß sie an einer bestimmten Stelle aufhören muß, daß sie irgendwo auf das Unteilbare stößt, ist unzweifelhaft. Die Unbestimmtheit über die Grenze der Teilbarkeit hat den Irr- tum veranlaßt, daß sie ins Unendliche gehe; sie geht jedoch nur ins Unbestimmte, weshalb auch umsichtigere Mathematiker nicht von einer Teilung in infinitum sondern in indefinitum sprechen. In der Vorstellung ist allerdings ein Progreß ins Unendliche möglich, aber demselben kann weder in der Natur noch in der praktischen Anwendung etwas entsprechen. In der Natur muß es jedenfalls reale Anfänge geben, aus welchen die Größe zusammenwächst; in der Praxis freilich wird es willkürlich und von den Umständen abhängig sein, bei welcher Grenze der Teilung man stehen bleibt; was das eine Mal als erster Teil genommen wurde, kann ein ander Mal als letzter behandelt werden, jedenfalls aber wird ohne einen ersten Teil überhaupt nichts zustande kommen. 1 Obgleich diese ersten Teile bei räumlichen Dingen unter der Grenze des Sinnlichen liegen, so kann doch das sinnlich unwahrnehmbare Minimum nichtsdestoweniger Objekt der Betrachtung sein. Die Ge- wißheit seiner Existenz entnehmen die Sinne nämlich der Be- schaffenheit der sinnlichen Gegenstände und übertragen sie durch das Denken auf die Minima. 2 Daß das Minimum oder reale naturae weit unter den Gren- zen der Sinnlichkeit liegt, wird durch ein aus Lukrez 3 ent- nommenes Beispiel erläutert, das wir, jedenfalls aus derselben 1 De min. I, 7. Schol. p. 28. 2 De min. I, 14. Schol. p. 52. 3 De nat. rer. 1. IV. v. 116—121. Vgl. die entsprechenden Stellen bei Lubin, Sennert, Basso, Magnenus und den folgenden. Laßwitz. 24

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/387>, abgerufen am 25.11.2024.