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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Cusanus: Einheit und Maß.
Die Zahl ist die Bedingung für die Vielheit der Dinge;
mit Aufhebung der Zahl würde Unterscheidung und Ordnung,
Proportionalität und Harmonie der Dinge aufhören. Es ist
daher notwendig, daß die Zahl nicht ins Unendliche steigen
oder fallen könne, was ihrer Aufhebung gleichkäme, sondern
daß man bei derselben zu einer kleinsten gelange, nämlich zu
einer unüberschreitbaren unteren Grenze, welche die Einheit
ist.1 Dieses Minimum, welches als Einheit dient, ist nicht
selbst eine Zahl, sondern das Prinzip aller Zahlen.

Das Bedürfnis, ein einheitliches Maß für die Vielheit der
Dinge zu finden, führt Cusa zunächst zu der Überzeugung von
der Unzulänglichkeit alles menschlichen Messens und Erkennens,
zu dem Suchen nach der allumfassenden Einheit in Gott, von
welcher alles Erkennen ausgehen müsse, und damit zu seiner
Beschränkung des menschlichen Wissens, der docta ignorantia.
Insoweit hier die Untersuchung des Unendlichen in Betracht
kommt, wird sich noch Gelegenheit ergeben, über diese Frage
zu sprechen. Weniger bekannt als die theosophischen Be-
trachtungen des Cusaners, welche von hier ausgehen, aber
um so wichtiger für die Entwickelung der Korpuskulartheorie
ist sein Versuch, dieses einheitliche Maß für die Dinge in der
Welt der Größen und der physischen Wirklichkeit aufzu-
finden. Wie Cusa überhaupt durch seine Überzeugung von
der Beschränktheit des Wissens nicht zum Zweifel an dem
Erfolge der Versuche, die Körperwelt zu erforschen, sich ge-
drängt fühlt, sondern wie er gerade in der wirklichen Welt
selbst ein hoffnungsvolles Feld der Bethätigung des Geistes
erblickt und durch die Wertschätzung derselben sich weit über
die Scholastik emporhebt, so versucht er auch praktisch seiner
Theorie des Messens physikalische Bedeutung zu geben.

Außerhalb des Geistes existiert in Wirklichkeit nur die
Solidität der Körper;2 um in die Welt der Körper Ordnung

simul et alteritatem dicat, absque numero intelligi nequit. Numerus ergo
omnia proportionabilia includit. Non est igitur numerus, qui proportionem
efficit, in quantitate tantum: sed in omnibus, quae quovismodo substantialiter
aut accidentaliter convenire possunt ac differre.
1 De doct. ign. c. 5. p. 4. Necessarium est in numero ad minimum
deveniri, quo minus esse nequit, uti est unitas.
2 De mente. Idiotae lib. III. c. 9. p. 162.

Cusanus: Einheit und Maß.
Die Zahl ist die Bedingung für die Vielheit der Dinge;
mit Aufhebung der Zahl würde Unterscheidung und Ordnung,
Proportionalität und Harmonie der Dinge aufhören. Es ist
daher notwendig, daß die Zahl nicht ins Unendliche steigen
oder fallen könne, was ihrer Aufhebung gleichkäme, sondern
daß man bei derselben zu einer kleinsten gelange, nämlich zu
einer unüberschreitbaren unteren Grenze, welche die Einheit
ist.1 Dieses Minimum, welches als Einheit dient, ist nicht
selbst eine Zahl, sondern das Prinzip aller Zahlen.

Das Bedürfnis, ein einheitliches Maß für die Vielheit der
Dinge zu finden, führt Cusa zunächst zu der Überzeugung von
der Unzulänglichkeit alles menschlichen Messens und Erkennens,
zu dem Suchen nach der allumfassenden Einheit in Gott, von
welcher alles Erkennen ausgehen müsse, und damit zu seiner
Beschränkung des menschlichen Wissens, der docta ignorantia.
Insoweit hier die Untersuchung des Unendlichen in Betracht
kommt, wird sich noch Gelegenheit ergeben, über diese Frage
zu sprechen. Weniger bekannt als die theosophischen Be-
trachtungen des Cusaners, welche von hier ausgehen, aber
um so wichtiger für die Entwickelung der Korpuskulartheorie
ist sein Versuch, dieses einheitliche Maß für die Dinge in der
Welt der Größen und der physischen Wirklichkeit aufzu-
finden. Wie Cusa überhaupt durch seine Überzeugung von
der Beschränktheit des Wissens nicht zum Zweifel an dem
Erfolge der Versuche, die Körperwelt zu erforschen, sich ge-
drängt fühlt, sondern wie er gerade in der wirklichen Welt
selbst ein hoffnungsvolles Feld der Bethätigung des Geistes
erblickt und durch die Wertschätzung derselben sich weit über
die Scholastik emporhebt, so versucht er auch praktisch seiner
Theorie des Messens physikalische Bedeutung zu geben.

Außerhalb des Geistes existiert in Wirklichkeit nur die
Solidität der Körper;2 um in die Welt der Körper Ordnung

simul et alteritatem dicat, absque numero intelligi nequit. Numerus ergo
omnia proportionabilia includit. Non est igitur numerus, qui proportionem
efficit, in quantitate tantum: sed in omnibus, quae quovismodo substantialiter
aut accidentaliter convenire possunt ac differre.
1 De doct. ign. c. 5. p. 4. Necessarium est in numero ad minimum
deveniri, quo minus esse nequit, uti est unitas.
2 De mente. Idiotae lib. III. c. 9. p. 162.
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[276/0294] Cusanus: Einheit und Maß. Die Zahl ist die Bedingung für die Vielheit der Dinge; mit Aufhebung der Zahl würde Unterscheidung und Ordnung, Proportionalität und Harmonie der Dinge aufhören. Es ist daher notwendig, daß die Zahl nicht ins Unendliche steigen oder fallen könne, was ihrer Aufhebung gleichkäme, sondern daß man bei derselben zu einer kleinsten gelange, nämlich zu einer unüberschreitbaren unteren Grenze, welche die Einheit ist. 1 Dieses Minimum, welches als Einheit dient, ist nicht selbst eine Zahl, sondern das Prinzip aller Zahlen. Das Bedürfnis, ein einheitliches Maß für die Vielheit der Dinge zu finden, führt Cusa zunächst zu der Überzeugung von der Unzulänglichkeit alles menschlichen Messens und Erkennens, zu dem Suchen nach der allumfassenden Einheit in Gott, von welcher alles Erkennen ausgehen müsse, und damit zu seiner Beschränkung des menschlichen Wissens, der docta ignorantia. Insoweit hier die Untersuchung des Unendlichen in Betracht kommt, wird sich noch Gelegenheit ergeben, über diese Frage zu sprechen. Weniger bekannt als die theosophischen Be- trachtungen des Cusaners, welche von hier ausgehen, aber um so wichtiger für die Entwickelung der Korpuskulartheorie ist sein Versuch, dieses einheitliche Maß für die Dinge in der Welt der Größen und der physischen Wirklichkeit aufzu- finden. Wie Cusa überhaupt durch seine Überzeugung von der Beschränktheit des Wissens nicht zum Zweifel an dem Erfolge der Versuche, die Körperwelt zu erforschen, sich ge- drängt fühlt, sondern wie er gerade in der wirklichen Welt selbst ein hoffnungsvolles Feld der Bethätigung des Geistes erblickt und durch die Wertschätzung derselben sich weit über die Scholastik emporhebt, so versucht er auch praktisch seiner Theorie des Messens physikalische Bedeutung zu geben. Außerhalb des Geistes existiert in Wirklichkeit nur die Solidität der Körper; 2 um in die Welt der Körper Ordnung 2 1 De doct. ign. c. 5. p. 4. Necessarium est in numero ad minimum deveniri, quo minus esse nequit, uti est unitas. 2 De mente. Idiotae lib. III. c. 9. p. 162. 2 simul et alteritatem dicat, absque numero intelligi nequit. Numerus ergo omnia proportionabilia includit. Non est igitur numerus, qui proportionem efficit, in quantitate tantum: sed in omnibus, quae quovismodo substantialiter aut accidentaliter convenire possunt ac differre.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/294>, abgerufen am 28.09.2024.