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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Die Frage nach den Bestandteilen in d. Mischung.
der zweiten, dem actus secundus. Der actus primus bezeichnet
die wesentliche Existenz eines Dinges, sein substanzielles
Sein; der actus secundus dagegen die aktuelle Wirkung oder
Thätigkeit desselben. Es entsteht nun die Frage, ob die Be-
standteile in den Verbindungen nur ihre aktuelle Wirkung
verloren haben, so daß sie im gebundenen Zustande nicht
diejenige Wirksamkeit entfalten können, welche sie im freien
Zustande besitzen, oder ob sie auch den actus primus, die sub-
stanzielle oder formale Existenz, eingebüßt haben. Der Wort-
laut der aristotelischen Angaben spricht dafür, daß die letztere
als erhalten und nur der actus secundus als aufgehoben betrachtet
werden soll. Denn es wird ausdrücklich gesagt, daß die Be-
standteile "nicht untergegangen", sondern "verändert"
sind, was genau der angegebenen Auffassung entspricht. Da-
mit stimmt auch, daß Aristoteles von einem Mittelzustande
der gegensätzlichen Eigenschaften, also einer Veränderung der
Wirksamkeit redet, während der Forderung eines bloß po-
tenziellen Bestehens der Substanzen selbst durch die Annahme
entsprochen wird, daß diese Potenzialität sich nur auf die
Aufhebung des actus secundus, nicht aber auf die des actus
primus
bezieht.1

Wenn man nun, wie es die Worte des Philosophen zu
verlangen scheinen, die Frage so entscheidet, daß bloß die
Eigenschaften der Bestandteile in den Verbindungen (im
Vergleich zu ihrem Sein im freien Zustande) potenziell sind,
die Bestandteile selbst dagegen ein formales, d. h. substanzielles
Sein bewahren, so entsteht die Schwierigkeit, diese Auffassung
mit der aristotelischen Vorstellung von der Homogenität der
Verbindung in Einklang zu bringen. Denn wenn der zusammen-
gesetzte Körper seiner ganzen Masse nach ein gleichmäßiges
Kontinuum sein soll, wie ist es dann denkbar, daß doch inner-
halb dieses Kontinuums die Elemente ihrer Form nach erhalten
bleiben? Wie ist es möglich, daß, um mit der Schule zu reden,
die Verbindung eine einheitliche substanzielle Form be-
sitzt? Hier ist eine Lücke, über welche Aristoteles fortge-

1 Vgl. hierzu Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente
in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart.
Dillingen 1879.
S. 5 u. 10--12.

Die Frage nach den Bestandteilen in d. Mischung.
der zweiten, dem actus secundus. Der actus primus bezeichnet
die wesentliche Existenz eines Dinges, sein substanzielles
Sein; der actus secundus dagegen die aktuelle Wirkung oder
Thätigkeit desselben. Es entsteht nun die Frage, ob die Be-
standteile in den Verbindungen nur ihre aktuelle Wirkung
verloren haben, so daß sie im gebundenen Zustande nicht
diejenige Wirksamkeit entfalten können, welche sie im freien
Zustande besitzen, oder ob sie auch den actus primus, die sub-
stanzielle oder formale Existenz, eingebüßt haben. Der Wort-
laut der aristotelischen Angaben spricht dafür, daß die letztere
als erhalten und nur der actus secundus als aufgehoben betrachtet
werden soll. Denn es wird ausdrücklich gesagt, daß die Be-
standteile „nicht untergegangen‟, sondern „verändert‟
sind, was genau der angegebenen Auffassung entspricht. Da-
mit stimmt auch, daß Aristoteles von einem Mittelzustande
der gegensätzlichen Eigenschaften, also einer Veränderung der
Wirksamkeit redet, während der Forderung eines bloß po-
tenziellen Bestehens der Substanzen selbst durch die Annahme
entsprochen wird, daß diese Potenzialität sich nur auf die
Aufhebung des actus secundus, nicht aber auf die des actus
primus
bezieht.1

Wenn man nun, wie es die Worte des Philosophen zu
verlangen scheinen, die Frage so entscheidet, daß bloß die
Eigenschaften der Bestandteile in den Verbindungen (im
Vergleich zu ihrem Sein im freien Zustande) potenziell sind,
die Bestandteile selbst dagegen ein formales, d. h. substanzielles
Sein bewahren, so entsteht die Schwierigkeit, diese Auffassung
mit der aristotelischen Vorstellung von der Homogenität der
Verbindung in Einklang zu bringen. Denn wenn der zusammen-
gesetzte Körper seiner ganzen Masse nach ein gleichmäßiges
Kontinuum sein soll, wie ist es dann denkbar, daß doch inner-
halb dieses Kontinuums die Elemente ihrer Form nach erhalten
bleiben? Wie ist es möglich, daß, um mit der Schule zu reden,
die Verbindung eine einheitliche substanzielle Form be-
sitzt? Hier ist eine Lücke, über welche Aristoteles fortge-

1 Vgl. hierzu Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente
in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart.
Dillingen 1879.
S. 5 u. 10—12.
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[236/0254] Die Frage nach den Bestandteilen in d. Mischung. der zweiten, dem actus secundus. Der actus primus bezeichnet die wesentliche Existenz eines Dinges, sein substanzielles Sein; der actus secundus dagegen die aktuelle Wirkung oder Thätigkeit desselben. Es entsteht nun die Frage, ob die Be- standteile in den Verbindungen nur ihre aktuelle Wirkung verloren haben, so daß sie im gebundenen Zustande nicht diejenige Wirksamkeit entfalten können, welche sie im freien Zustande besitzen, oder ob sie auch den actus primus, die sub- stanzielle oder formale Existenz, eingebüßt haben. Der Wort- laut der aristotelischen Angaben spricht dafür, daß die letztere als erhalten und nur der actus secundus als aufgehoben betrachtet werden soll. Denn es wird ausdrücklich gesagt, daß die Be- standteile „nicht untergegangen‟, sondern „verändert‟ sind, was genau der angegebenen Auffassung entspricht. Da- mit stimmt auch, daß Aristoteles von einem Mittelzustande der gegensätzlichen Eigenschaften, also einer Veränderung der Wirksamkeit redet, während der Forderung eines bloß po- tenziellen Bestehens der Substanzen selbst durch die Annahme entsprochen wird, daß diese Potenzialität sich nur auf die Aufhebung des actus secundus, nicht aber auf die des actus primus bezieht. 1 Wenn man nun, wie es die Worte des Philosophen zu verlangen scheinen, die Frage so entscheidet, daß bloß die Eigenschaften der Bestandteile in den Verbindungen (im Vergleich zu ihrem Sein im freien Zustande) potenziell sind, die Bestandteile selbst dagegen ein formales, d. h. substanzielles Sein bewahren, so entsteht die Schwierigkeit, diese Auffassung mit der aristotelischen Vorstellung von der Homogenität der Verbindung in Einklang zu bringen. Denn wenn der zusammen- gesetzte Körper seiner ganzen Masse nach ein gleichmäßiges Kontinuum sein soll, wie ist es dann denkbar, daß doch inner- halb dieses Kontinuums die Elemente ihrer Form nach erhalten bleiben? Wie ist es möglich, daß, um mit der Schule zu reden, die Verbindung eine einheitliche substanzielle Form be- sitzt? Hier ist eine Lücke, über welche Aristoteles fortge- 1 Vgl. hierzu Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart. Dillingen 1879. S. 5 u. 10—12.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/254>, abgerufen am 28.09.2024.