Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Seneca gegen die Atomistik.
der Natur über die kleinlichen Bestrebungen der Menschen
betonen.

Die direkte Ausbeute der Physik Senecas für die Theorie
des Körpers ist freilich sehr unbedeutend. Gegen atomistische
Auffassungen erklärt er sich wiederholt. Die Luft ist ihm der
Träger der Kontinuität, der einheitliche Körper, welcher zu-
gleich den Zusammenhang der Körper vermittelt.1 Sie darf
weder korpuskular gedacht und mit der Zusammensetzung des
Staubes aus einzelnen Teilchen verglichen werden, noch ent-
hält sie untermischte leere Zwischenräume.2 Demokrits ato-
mistische Erklärung der Winde wird bestritten,3 vielmehr der
Luft eine innere, natürliche Kraft sich zu bewegen zuge-
schrieben.4 Es ist aber bezeichnend für die Unbestimmtheit
der physikalischen Theorien, daß Seneca wenigstens für Nebel,
Wolken und die Exhalationen der Erde von bestimmten Kör-
perchen spricht und geradezu fragt: "Ist es also nicht richtiger
zu sagen, daß aus jedem Teile der Erde beständig viele Kor-
puskeln aufsteigen, welche anfangs sich anhäufen, dann von
der Sonne verdünnt zu werden beginnen, und weil alles, was
eingeengt sich ausdehnt, einen größeren Raum verlangt, da-
durch der Wind entsteht?"5 Derartige Äußerungen tragen ganz
den Charakter jener eklektischen, nur auf bequeme Erklärung
des Nächstliegenden gerichteten Physik.6

An Anregungen, welche aus dem Altertum stammten, fehlte
es demnach nicht, um das Problem des Körpers in physikalischer
Hinsicht zu fördern.

Unmittelbar freilich zeigt sich die Wirkung dieser korpus-
kulartheoretischen Anschauungen in der Wissenschaft des
Mittelalters nicht. Aber derselbe Prozeß, der sich bei den
Technikern und Mathematikern der Alten in der Emanzipation
von der Philosophie vollzog, mußte sich wiederholen, wenn
am Ausgange des Mittelalters die empirische Naturbehandlung
größeren Einfluß gewann. Und dazu trug das Naturwissen
der Araber wesentlich bei.

1 L. II, 2, 1. II, 6, 6.
2 II, 6, 2. II, 7.
3 V, c. 3.
4 V, 5, 1.
5 V, 4, 3.
6 Über das # der Stoiker vgl. 2. Buch I, 1 S. 266.

Seneca gegen die Atomistik.
der Natur über die kleinlichen Bestrebungen der Menschen
betonen.

Die direkte Ausbeute der Physik Senecas für die Theorie
des Körpers ist freilich sehr unbedeutend. Gegen atomistische
Auffassungen erklärt er sich wiederholt. Die Luft ist ihm der
Träger der Kontinuität, der einheitliche Körper, welcher zu-
gleich den Zusammenhang der Körper vermittelt.1 Sie darf
weder korpuskular gedacht und mit der Zusammensetzung des
Staubes aus einzelnen Teilchen verglichen werden, noch ent-
hält sie untermischte leere Zwischenräume.2 Demokrits ato-
mistische Erklärung der Winde wird bestritten,3 vielmehr der
Luft eine innere, natürliche Kraft sich zu bewegen zuge-
schrieben.4 Es ist aber bezeichnend für die Unbestimmtheit
der physikalischen Theorien, daß Seneca wenigstens für Nebel,
Wolken und die Exhalationen der Erde von bestimmten Kör-
perchen spricht und geradezu fragt: „Ist es also nicht richtiger
zu sagen, daß aus jedem Teile der Erde beständig viele Kor-
puskeln aufsteigen, welche anfangs sich anhäufen, dann von
der Sonne verdünnt zu werden beginnen, und weil alles, was
eingeengt sich ausdehnt, einen größeren Raum verlangt, da-
durch der Wind entsteht?‟5 Derartige Äußerungen tragen ganz
den Charakter jener eklektischen, nur auf bequeme Erklärung
des Nächstliegenden gerichteten Physik.6

An Anregungen, welche aus dem Altertum stammten, fehlte
es demnach nicht, um das Problem des Körpers in physikalischer
Hinsicht zu fördern.

Unmittelbar freilich zeigt sich die Wirkung dieser korpus-
kulartheoretischen Anschauungen in der Wissenschaft des
Mittelalters nicht. Aber derselbe Prozeß, der sich bei den
Technikern und Mathematikern der Alten in der Emanzipation
von der Philosophie vollzog, mußte sich wiederholen, wenn
am Ausgange des Mittelalters die empirische Naturbehandlung
größeren Einfluß gewann. Und dazu trug das Naturwissen
der Araber wesentlich bei.

1 L. II, 2, 1. II, 6, 6.
2 II, 6, 2. II, 7.
3 V, c. 3.
4 V, 5, 1.
5 V, 4, 3.
6 Über das # der Stoiker vgl. 2. Buch I, 1 S. 266.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0239" n="221"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Seneca</hi> gegen die Atomistik.</fw><lb/>
der Natur über die kleinlichen Bestrebungen der Menschen<lb/>
betonen.</p><lb/>
            <p>Die direkte Ausbeute der Physik <hi rendition="#k">Senecas</hi> für die Theorie<lb/>
des Körpers ist freilich sehr unbedeutend. Gegen atomistische<lb/>
Auffassungen erklärt er sich wiederholt. Die Luft ist ihm der<lb/>
Träger der Kontinuität, der einheitliche Körper, welcher zu-<lb/>
gleich den Zusammenhang der Körper vermittelt.<note place="foot" n="1">L. II, 2, 1. II, 6, 6.</note> Sie darf<lb/>
weder korpuskular gedacht und mit der Zusammensetzung des<lb/>
Staubes aus einzelnen Teilchen verglichen werden, noch ent-<lb/>
hält sie untermischte leere Zwischenräume.<note place="foot" n="2">II, 6, 2. II, 7.</note> <hi rendition="#k">Demokrits</hi> ato-<lb/>
mistische Erklärung der Winde wird bestritten,<note place="foot" n="3">V, c. 3.</note> vielmehr der<lb/>
Luft eine innere, natürliche Kraft sich zu bewegen zuge-<lb/>
schrieben.<note place="foot" n="4">V, 5, 1.</note> Es ist aber bezeichnend für die Unbestimmtheit<lb/>
der physikalischen Theorien, daß <hi rendition="#k">Seneca</hi> wenigstens für Nebel,<lb/>
Wolken und die Exhalationen der Erde von bestimmten Kör-<lb/>
perchen spricht und geradezu fragt: &#x201E;Ist es also nicht richtiger<lb/>
zu sagen, daß aus jedem Teile der Erde beständig viele Kor-<lb/>
puskeln aufsteigen, welche anfangs sich anhäufen, dann von<lb/>
der Sonne verdünnt zu werden beginnen, und weil alles, was<lb/>
eingeengt sich ausdehnt, einen größeren Raum verlangt, da-<lb/>
durch der Wind entsteht?&#x201F;<note place="foot" n="5">V, 4, 3.</note> Derartige Äußerungen tragen ganz<lb/>
den Charakter jener eklektischen, nur auf bequeme Erklärung<lb/>
des Nächstliegenden gerichteten Physik.<note place="foot" n="6">Über das # der Stoiker vgl. 2. Buch I, 1 S. 266.</note></p><lb/>
            <p>An Anregungen, welche aus dem Altertum stammten, fehlte<lb/>
es demnach nicht, um das Problem des Körpers in physikalischer<lb/>
Hinsicht zu fördern.</p><lb/>
            <p>Unmittelbar freilich zeigt sich die Wirkung dieser korpus-<lb/>
kulartheoretischen Anschauungen in der Wissenschaft des<lb/>
Mittelalters nicht. Aber derselbe Prozeß, der sich bei den<lb/>
Technikern und Mathematikern der Alten in der Emanzipation<lb/>
von der Philosophie vollzog, mußte sich wiederholen, wenn<lb/>
am Ausgange des Mittelalters die empirische Naturbehandlung<lb/>
größeren Einfluß gewann. Und dazu trug das Naturwissen<lb/>
der Araber wesentlich bei.</p>
          </div><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[221/0239] Seneca gegen die Atomistik. der Natur über die kleinlichen Bestrebungen der Menschen betonen. Die direkte Ausbeute der Physik Senecas für die Theorie des Körpers ist freilich sehr unbedeutend. Gegen atomistische Auffassungen erklärt er sich wiederholt. Die Luft ist ihm der Träger der Kontinuität, der einheitliche Körper, welcher zu- gleich den Zusammenhang der Körper vermittelt. 1 Sie darf weder korpuskular gedacht und mit der Zusammensetzung des Staubes aus einzelnen Teilchen verglichen werden, noch ent- hält sie untermischte leere Zwischenräume. 2 Demokrits ato- mistische Erklärung der Winde wird bestritten, 3 vielmehr der Luft eine innere, natürliche Kraft sich zu bewegen zuge- schrieben. 4 Es ist aber bezeichnend für die Unbestimmtheit der physikalischen Theorien, daß Seneca wenigstens für Nebel, Wolken und die Exhalationen der Erde von bestimmten Kör- perchen spricht und geradezu fragt: „Ist es also nicht richtiger zu sagen, daß aus jedem Teile der Erde beständig viele Kor- puskeln aufsteigen, welche anfangs sich anhäufen, dann von der Sonne verdünnt zu werden beginnen, und weil alles, was eingeengt sich ausdehnt, einen größeren Raum verlangt, da- durch der Wind entsteht?‟ 5 Derartige Äußerungen tragen ganz den Charakter jener eklektischen, nur auf bequeme Erklärung des Nächstliegenden gerichteten Physik. 6 An Anregungen, welche aus dem Altertum stammten, fehlte es demnach nicht, um das Problem des Körpers in physikalischer Hinsicht zu fördern. Unmittelbar freilich zeigt sich die Wirkung dieser korpus- kulartheoretischen Anschauungen in der Wissenschaft des Mittelalters nicht. Aber derselbe Prozeß, der sich bei den Technikern und Mathematikern der Alten in der Emanzipation von der Philosophie vollzog, mußte sich wiederholen, wenn am Ausgange des Mittelalters die empirische Naturbehandlung größeren Einfluß gewann. Und dazu trug das Naturwissen der Araber wesentlich bei. 1 L. II, 2, 1. II, 6, 6. 2 II, 6, 2. II, 7. 3 V, c. 3. 4 V, 5, 1. 5 V, 4, 3. 6 Über das # der Stoiker vgl. 2. Buch I, 1 S. 266.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/239
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/239>, abgerufen am 25.11.2024.