Die antike Atomistik, in der Strenge, wie Demokrit sie gelehrt, beruhte allerdings auf dem Denkmittel, welches wir in der führenden Gedankenarbeit der Philosophie überall ver- missen, auf der mechanischen Kausalität. Aber gerade dieses hatte sich seinerseits vorläufig unfähig gezeigt, befriedigende Natur- erklärung zu liefern, oder dem metaphysischen und theologischen Interesse zu entsprechen. Die Anwendbarkeit der Mathematik war auf dem damaligen Standpunkte derselben noch nicht ge- geben, die Bahnen der Atome und die Stöße ihrer Massen konnte man nicht verfolgen oder konstruieren, der Begriff der Veränderung selbst blieb unzugänglich. Wenn es sich dagegen nicht um eine strenge mathematische Begründung, sondern nur um eine physikalische Erläuterung, eine Veranschaulichung der Vorgänge in der Körperwelt handelt, so bedarf es auch nicht einer Loslösung des im Leeren sich bewegenden Sub- strats von jeder sinnlichen Vorstellung. Die Atome selbst mögen zwar ihre Qualitätslosigkeit behalten, sie sollen nur Größe, Gestalt und Bewegung besitzen, aber die Art dieser Bewegung, die gegenseitige Einwirkung der Atome und die Folgen dieser Einwirkung nehmen unter dem Einflusse der in der sichtbaren Körperwelt beobachteten Vorgänge eine sinn- lichere Färbung an. Der Einwurf, daß im Begriff des Atoms ein Widerspruch liege, weil das Unveränderliche, von allem andren getrennte Individuelle nicht in Wechselwirkung stehen könne mit andern Atomen, dieser Einwurf geht verloren. Die unmittelbare Erfahrung der Wechselwirkung wird auf die Atome übertragen, weil dieselben nicht mehr als metaphysische Substanzen, sondern als physikalische Partikeln der Körper selbst vorgestellt werden. Das ist die Geburtsstätte der Kor- puskularphysik. Das Atom wird zur Korpuskel, und die Kor- puskeln genügen dem Praktiker zur Verdeutlichung der von ihm an den Körpern beobachteten Veränderungen.
Diese Umwandlung der Atomistik in Korpuskulartheorie hat sich bereits im Altertum vollzogen; nur wissen wir wenig davon. Die Zahlen des Pythagoras, die Idealflächen des Platon, die homoiomeren Elementarteilchen des Anaxagoras dringen in die Atomistik Demokrits ein und verschmelzen mit den
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Atomistik und Korpuskulartheorie.
2. Die Korpuskulartheorie des Altertums.
Die antike Atomistik, in der Strenge, wie Demokrit sie gelehrt, beruhte allerdings auf dem Denkmittel, welches wir in der führenden Gedankenarbeit der Philosophie überall ver- missen, auf der mechanischen Kausalität. Aber gerade dieses hatte sich seinerseits vorläufig unfähig gezeigt, befriedigende Natur- erklärung zu liefern, oder dem metaphysischen und theologischen Interesse zu entsprechen. Die Anwendbarkeit der Mathematik war auf dem damaligen Standpunkte derselben noch nicht ge- geben, die Bahnen der Atome und die Stöße ihrer Massen konnte man nicht verfolgen oder konstruieren, der Begriff der Veränderung selbst blieb unzugänglich. Wenn es sich dagegen nicht um eine strenge mathematische Begründung, sondern nur um eine physikalische Erläuterung, eine Veranschaulichung der Vorgänge in der Körperwelt handelt, so bedarf es auch nicht einer Loslösung des im Leeren sich bewegenden Sub- strats von jeder sinnlichen Vorstellung. Die Atome selbst mögen zwar ihre Qualitätslosigkeit behalten, sie sollen nur Größe, Gestalt und Bewegung besitzen, aber die Art dieser Bewegung, die gegenseitige Einwirkung der Atome und die Folgen dieser Einwirkung nehmen unter dem Einflusse der in der sichtbaren Körperwelt beobachteten Vorgänge eine sinn- lichere Färbung an. Der Einwurf, daß im Begriff des Atoms ein Widerspruch liege, weil das Unveränderliche, von allem andren getrennte Individuelle nicht in Wechselwirkung stehen könne mit andern Atomen, dieser Einwurf geht verloren. Die unmittelbare Erfahrung der Wechselwirkung wird auf die Atome übertragen, weil dieselben nicht mehr als metaphysische Substanzen, sondern als physikalische Partikeln der Körper selbst vorgestellt werden. Das ist die Geburtsstätte der Kor- puskularphysik. Das Atom wird zur Korpuskel, und die Kor- puskeln genügen dem Praktiker zur Verdeutlichung der von ihm an den Körpern beobachteten Veränderungen.
Diese Umwandlung der Atomistik in Korpuskulartheorie hat sich bereits im Altertum vollzogen; nur wissen wir wenig davon. Die Zahlen des Pythagoras, die Idealflächen des Platon, die homoiomeren Elementarteilchen des Anaxagoras dringen in die Atomistik Demokrits ein und verschmelzen mit den
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Atomistik und Korpuskulartheorie.
2. Die Korpuskulartheorie des Altertums.
Die antike Atomistik, in der Strenge, wie Demokrit sie
gelehrt, beruhte allerdings auf dem Denkmittel, welches wir
in der führenden Gedankenarbeit der Philosophie überall ver-
missen, auf der mechanischen Kausalität. Aber gerade dieses hatte
sich seinerseits vorläufig unfähig gezeigt, befriedigende Natur-
erklärung zu liefern, oder dem metaphysischen und theologischen
Interesse zu entsprechen. Die Anwendbarkeit der Mathematik
war auf dem damaligen Standpunkte derselben noch nicht ge-
geben, die Bahnen der Atome und die Stöße ihrer Massen
konnte man nicht verfolgen oder konstruieren, der Begriff der
Veränderung selbst blieb unzugänglich. Wenn es sich dagegen
nicht um eine strenge mathematische Begründung, sondern nur
um eine physikalische Erläuterung, eine Veranschaulichung
der Vorgänge in der Körperwelt handelt, so bedarf es auch
nicht einer Loslösung des im Leeren sich bewegenden Sub-
strats von jeder sinnlichen Vorstellung. Die Atome selbst
mögen zwar ihre Qualitätslosigkeit behalten, sie sollen nur
Größe, Gestalt und Bewegung besitzen, aber die Art dieser
Bewegung, die gegenseitige Einwirkung der Atome und die
Folgen dieser Einwirkung nehmen unter dem Einflusse der in
der sichtbaren Körperwelt beobachteten Vorgänge eine sinn-
lichere Färbung an. Der Einwurf, daß im Begriff des Atoms
ein Widerspruch liege, weil das Unveränderliche, von allem
andren getrennte Individuelle nicht in Wechselwirkung stehen
könne mit andern Atomen, dieser Einwurf geht verloren. Die
unmittelbare Erfahrung der Wechselwirkung wird auf die
Atome übertragen, weil dieselben nicht mehr als metaphysische
Substanzen, sondern als physikalische Partikeln der Körper
selbst vorgestellt werden. Das ist die Geburtsstätte der Kor-
puskularphysik. Das Atom wird zur Korpuskel, und die Kor-
puskeln genügen dem Praktiker zur Verdeutlichung der von
ihm an den Körpern beobachteten Veränderungen.
Diese Umwandlung der Atomistik in Korpuskulartheorie
hat sich bereits im Altertum vollzogen; nur wissen wir wenig
davon. Die Zahlen des Pythagoras, die Idealflächen des Platon,
die homoiomeren Elementarteilchen des Anaxagoras dringen
in die Atomistik Demokrits ein und verschmelzen mit den
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/229>, abgerufen am 26.11.2024.
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