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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Scholastik: Kein Vacuum.
selbst und drückt einen Modus des Seins des Körpers aus,
wodurch er in einem bestimmten Orte eine wirkliche Gegen-
wart hat1 und jeden andren Körper daselbst ausschließt. Raum
und Ort des Körpers sind also nicht bloß eine Bestimmung
der einschließenden Körper. Aber allerdings ist die gesamte
Welt so geschaffen und geordnet, daß immer nur Körper an-
einander grenzen und jede Räumlichkeit eines Körpers zugleich
mit der Einschließung durch andre Körper, mit einer begren-
zenden Oberfläche verbunden ist. Eine Ausnahme findet allein
mit dem äußersten Himmelskreise selbst, dem Empyreum statt,
welches von keinem andren Körper umschlossen wird, und
gerade dadurch beweist, daß Gegenwart an einem bestimmten
Orte ein besonderer Modus des Körpers ist und nicht bloß
von der Gegenwart umschließender Körper abhängt.2

Bei dieser Auffassung der Räumlichkeit als einer durchaus
an die Körperlichkeit geknüpften Eigenschaft konnte das Wort
Vacuum nur den Sinn einer künstlichen Abstraktion haben,
der in der Erfahrung nichts entspricht. Dadurch hatte schon
Aristoteles jede atomistische Theorie der Materie niederge-
schlagen, daß er Raum und Körper im Kontinuum identifiziert
hatte. Wenn im Beginn naturwissenschaftlichen Interesses die
Frage nach dem Wesen des Körpers wieder auftreten und der
Einzelkörper selbstständige Bedeutung erhalten sollte, so konnte
bei der Herrschaft des horror vacui dies nur unter der Bedin-
gung geschehen, daß auch die korpuskular gedachte Materie
den Raum stetig ausfülle. Daher tritt die Frage auf, welche
schon durch Platon angeregt war, als er die Elementarteile
der Körperwelt in den regelmäßigen Polyedern suchte, ob und
durch welche gleichartige Körperfiguren der Raum stetig aus-
gefüllt werden könne. Genügende Aufklärung ist wohl erst
durch Maurolykus (1494--1575) in dieses Problem gebracht
worden.

Roger Baco, dessen Denken, wiewohl es noch völlig
unter dem Gesichtspunkte der substanziellen Formen steht,

1 Nach Scotus gehören zum örtlichen Sein des Körpers 6 Stücke: Esse
in loco, esse in loco actuali, esse in loco determinato, esse in loco commensu-
rative, esse in loco determinate hoc vel illo, esse in loco naturaliter vel
violenter. Sent. II, dist. 2 qu. 6. Opera, Lugd. 1639. T. VI. ps. I. p. 188 ff.
2 Vgl. Suarez bei Baumann, a. a. O. S. 56.

Scholastik: Kein Vacuum.
selbst und drückt einen Modus des Seins des Körpers aus,
wodurch er in einem bestimmten Orte eine wirkliche Gegen-
wart hat1 und jeden andren Körper daselbst ausschließt. Raum
und Ort des Körpers sind also nicht bloß eine Bestimmung
der einschließenden Körper. Aber allerdings ist die gesamte
Welt so geschaffen und geordnet, daß immer nur Körper an-
einander grenzen und jede Räumlichkeit eines Körpers zugleich
mit der Einschließung durch andre Körper, mit einer begren-
zenden Oberfläche verbunden ist. Eine Ausnahme findet allein
mit dem äußersten Himmelskreise selbst, dem Empyreum statt,
welches von keinem andren Körper umschlossen wird, und
gerade dadurch beweist, daß Gegenwart an einem bestimmten
Orte ein besonderer Modus des Körpers ist und nicht bloß
von der Gegenwart umschließender Körper abhängt.2

Bei dieser Auffassung der Räumlichkeit als einer durchaus
an die Körperlichkeit geknüpften Eigenschaft konnte das Wort
Vacuum nur den Sinn einer künstlichen Abstraktion haben,
der in der Erfahrung nichts entspricht. Dadurch hatte schon
Aristoteles jede atomistische Theorie der Materie niederge-
schlagen, daß er Raum und Körper im Kontinuum identifiziert
hatte. Wenn im Beginn naturwissenschaftlichen Interesses die
Frage nach dem Wesen des Körpers wieder auftreten und der
Einzelkörper selbstständige Bedeutung erhalten sollte, so konnte
bei der Herrschaft des horror vacui dies nur unter der Bedin-
gung geschehen, daß auch die korpuskular gedachte Materie
den Raum stetig ausfülle. Daher tritt die Frage auf, welche
schon durch Platon angeregt war, als er die Elementarteile
der Körperwelt in den regelmäßigen Polyedern suchte, ob und
durch welche gleichartige Körperfiguren der Raum stetig aus-
gefüllt werden könne. Genügende Aufklärung ist wohl erst
durch Maurolykus (1494—1575) in dieses Problem gebracht
worden.

Roger Baco, dessen Denken, wiewohl es noch völlig
unter dem Gesichtspunkte der substanziellen Formen steht,

1 Nach Scotus gehören zum örtlichen Sein des Körpers 6 Stücke: Esse
in loco, esse in loco actuali, esse in loco determinato, esse in loco commensu-
rative, esse in loco determinate hoc vel illo, esse in loco naturaliter vel
violenter. Sent. II, dist. 2 qu. 6. Opera, Lugd. 1639. T. VI. ps. I. p. 188 ff.
2 Vgl. Suarez bei Baumann, a. a. O. S. 56.
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[202/0220] Scholastik: Kein Vacuum. selbst und drückt einen Modus des Seins des Körpers aus, wodurch er in einem bestimmten Orte eine wirkliche Gegen- wart hat 1 und jeden andren Körper daselbst ausschließt. Raum und Ort des Körpers sind also nicht bloß eine Bestimmung der einschließenden Körper. Aber allerdings ist die gesamte Welt so geschaffen und geordnet, daß immer nur Körper an- einander grenzen und jede Räumlichkeit eines Körpers zugleich mit der Einschließung durch andre Körper, mit einer begren- zenden Oberfläche verbunden ist. Eine Ausnahme findet allein mit dem äußersten Himmelskreise selbst, dem Empyreum statt, welches von keinem andren Körper umschlossen wird, und gerade dadurch beweist, daß Gegenwart an einem bestimmten Orte ein besonderer Modus des Körpers ist und nicht bloß von der Gegenwart umschließender Körper abhängt. 2 Bei dieser Auffassung der Räumlichkeit als einer durchaus an die Körperlichkeit geknüpften Eigenschaft konnte das Wort Vacuum nur den Sinn einer künstlichen Abstraktion haben, der in der Erfahrung nichts entspricht. Dadurch hatte schon Aristoteles jede atomistische Theorie der Materie niederge- schlagen, daß er Raum und Körper im Kontinuum identifiziert hatte. Wenn im Beginn naturwissenschaftlichen Interesses die Frage nach dem Wesen des Körpers wieder auftreten und der Einzelkörper selbstständige Bedeutung erhalten sollte, so konnte bei der Herrschaft des horror vacui dies nur unter der Bedin- gung geschehen, daß auch die korpuskular gedachte Materie den Raum stetig ausfülle. Daher tritt die Frage auf, welche schon durch Platon angeregt war, als er die Elementarteile der Körperwelt in den regelmäßigen Polyedern suchte, ob und durch welche gleichartige Körperfiguren der Raum stetig aus- gefüllt werden könne. Genügende Aufklärung ist wohl erst durch Maurolykus (1494—1575) in dieses Problem gebracht worden. Roger Baco, dessen Denken, wiewohl es noch völlig unter dem Gesichtspunkte der substanziellen Formen steht, 1 Nach Scotus gehören zum örtlichen Sein des Körpers 6 Stücke: Esse in loco, esse in loco actuali, esse in loco determinato, esse in loco commensu- rative, esse in loco determinate hoc vel illo, esse in loco naturaliter vel violenter. Sent. II, dist. 2 qu. 6. Opera, Lugd. 1639. T. VI. ps. I. p. 188 ff. 2 Vgl. Suarez bei Baumann, a. a. O. S. 56.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/220>, abgerufen am 27.11.2024.