realistische oder idealistische Prinzipien, sondern sie bleiben innerhalb des Empirischen und gehen mit ihren Annahmen nur so weit, als es zur jedesmaligen Erklärung vorhandener Thatsachen nötig erscheint.
Die vom physikalischen Interesse beherrschte Theorie der Materie zeigt nun die Eigentümlichkeit, daß sie von ihrem ersten geschichtlichen Auftreten an Korpuskulartheorie ist; d. h. sie legt zu Grunde die Annahme, daß die Körperwelt zu erklären ist durch die Zusammensetzung derselben aus Korpus- keln, kleinen oder kleinsten Körperchen, welche sich von den sinnlich wahrnehmbaren Körpern dadurch unterscheiden, daß ihnen nicht alle sinnlichen Eigenschaften zukommen, sondern nur solche Eigenschaften, welche zur Konstituierung des Kör- perlichen unentbehrlich erscheinen. Dadurch erzeugt sie eine wertvolle Vereinfachung der Erklärungen, indem die Mannigfaltigkeit der empirischen Qualitäten wesentlich redu- ziert wird. Die korpuskularen Theorien verlegen keineswegs, wie man häufig behauptet hat, die Erklärung der Körperwelt nur um eine Stufe zurück, indem sie selbst wieder Körper vor- aussetzen, sondern sie fördern das Problem der Materie in der That; denn was sie ihren Ausführungen zu Grunde legen, das sind nicht Körper, wie sie die sinnliche Erfahrung bietet und wie sie eben erklärt werden sollen, sondern es sind Abstraktionen aus der sinnlichen Körperwelt, ein Produkt des Denkens, für welches zwar der Name des Körpers beibehalten ist, das jedoch in der sinnlichen Erfahrung nicht existiert. Solche Abstraktionen sind aber überhaupt der Weg, auf welchem alle Erklärung vom Mannigfaltigen zum Einfacheren und daher Allgemeineren fortschreitet. Die Erklärung besteht ja nicht in der Aufhebung sämtlicher Merkmale, sondern in ihrer Reduktion auf die unentbehrlichen. Die Korpuskulartheorie bedeutet daher selbst im bloß physikalischen Interesse mehr als eine Hilfshypothese. Sie entspringt allerdings aus dem Bedürfnis des Physikers nach Hypothesenbildung, aber sie ist so eng verknüpft mit der allgemeineren Aufgabe der Theorie der Materie, daß sie überall auf tiefer liegende Fragen zurückweist und einen philosophischen Charakter annimmt.
Denn mit der zunächst nur logisch vorgenommenen Ab- straktion von gewissen sinnlichen Qualitäten, z. B. des Tones,
Einleitung: Korpuskulartheorie als Erklärung.
realistische oder idealistische Prinzipien, sondern sie bleiben innerhalb des Empirischen und gehen mit ihren Annahmen nur so weit, als es zur jedesmaligen Erklärung vorhandener Thatsachen nötig erscheint.
Die vom physikalischen Interesse beherrschte Theorie der Materie zeigt nun die Eigentümlichkeit, daß sie von ihrem ersten geschichtlichen Auftreten an Korpuskulartheorie ist; d. h. sie legt zu Grunde die Annahme, daß die Körperwelt zu erklären ist durch die Zusammensetzung derselben aus Korpus- keln, kleinen oder kleinsten Körperchen, welche sich von den sinnlich wahrnehmbaren Körpern dadurch unterscheiden, daß ihnen nicht alle sinnlichen Eigenschaften zukommen, sondern nur solche Eigenschaften, welche zur Konstituierung des Kör- perlichen unentbehrlich erscheinen. Dadurch erzeugt sie eine wertvolle Vereinfachung der Erklärungen, indem die Mannigfaltigkeit der empirischen Qualitäten wesentlich redu- ziert wird. Die korpuskularen Theorien verlegen keineswegs, wie man häufig behauptet hat, die Erklärung der Körperwelt nur um eine Stufe zurück, indem sie selbst wieder Körper vor- aussetzen, sondern sie fördern das Problem der Materie in der That; denn was sie ihren Ausführungen zu Grunde legen, das sind nicht Körper, wie sie die sinnliche Erfahrung bietet und wie sie eben erklärt werden sollen, sondern es sind Abstraktionen aus der sinnlichen Körperwelt, ein Produkt des Denkens, für welches zwar der Name des Körpers beibehalten ist, das jedoch in der sinnlichen Erfahrung nicht existiert. Solche Abstraktionen sind aber überhaupt der Weg, auf welchem alle Erklärung vom Mannigfaltigen zum Einfacheren und daher Allgemeineren fortschreitet. Die Erklärung besteht ja nicht in der Aufhebung sämtlicher Merkmale, sondern in ihrer Reduktion auf die unentbehrlichen. Die Korpuskulartheorie bedeutet daher selbst im bloß physikalischen Interesse mehr als eine Hilfshypothese. Sie entspringt allerdings aus dem Bedürfnis des Physikers nach Hypothesenbildung, aber sie ist so eng verknüpft mit der allgemeineren Aufgabe der Theorie der Materie, daß sie überall auf tiefer liegende Fragen zurückweist und einen philosophischen Charakter annimmt.
Denn mit der zunächst nur logisch vorgenommenen Ab- straktion von gewissen sinnlichen Qualitäten, z. B. des Tones,
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[4/0022]
Einleitung: Korpuskulartheorie als Erklärung.
realistische oder idealistische Prinzipien, sondern sie bleiben
innerhalb des Empirischen und gehen mit ihren Annahmen
nur so weit, als es zur jedesmaligen Erklärung vorhandener
Thatsachen nötig erscheint.
Die vom physikalischen Interesse beherrschte Theorie der
Materie zeigt nun die Eigentümlichkeit, daß sie von ihrem
ersten geschichtlichen Auftreten an Korpuskulartheorie ist;
d. h. sie legt zu Grunde die Annahme, daß die Körperwelt zu
erklären ist durch die Zusammensetzung derselben aus Korpus-
keln, kleinen oder kleinsten Körperchen, welche sich von den
sinnlich wahrnehmbaren Körpern dadurch unterscheiden, daß
ihnen nicht alle sinnlichen Eigenschaften zukommen, sondern
nur solche Eigenschaften, welche zur Konstituierung des Kör-
perlichen unentbehrlich erscheinen. Dadurch erzeugt sie
eine wertvolle Vereinfachung der Erklärungen, indem die
Mannigfaltigkeit der empirischen Qualitäten wesentlich redu-
ziert wird. Die korpuskularen Theorien verlegen keineswegs,
wie man häufig behauptet hat, die Erklärung der Körperwelt nur
um eine Stufe zurück, indem sie selbst wieder Körper vor-
aussetzen, sondern sie fördern das Problem der Materie in der
That; denn was sie ihren Ausführungen zu Grunde legen, das
sind nicht Körper, wie sie die sinnliche Erfahrung bietet und
wie sie eben erklärt werden sollen, sondern es sind Abstraktionen
aus der sinnlichen Körperwelt, ein Produkt des Denkens, für
welches zwar der Name des Körpers beibehalten ist, das jedoch
in der sinnlichen Erfahrung nicht existiert. Solche Abstraktionen
sind aber überhaupt der Weg, auf welchem alle Erklärung
vom Mannigfaltigen zum Einfacheren und daher Allgemeineren
fortschreitet. Die Erklärung besteht ja nicht in der Aufhebung
sämtlicher Merkmale, sondern in ihrer Reduktion auf die
unentbehrlichen. Die Korpuskulartheorie bedeutet daher selbst
im bloß physikalischen Interesse mehr als eine Hilfshypothese.
Sie entspringt allerdings aus dem Bedürfnis des Physikers
nach Hypothesenbildung, aber sie ist so eng verknüpft mit
der allgemeineren Aufgabe der Theorie der Materie, daß sie
überall auf tiefer liegende Fragen zurückweist und einen
philosophischen Charakter annimmt.
Denn mit der zunächst nur logisch vorgenommenen Ab-
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/22>, abgerufen am 21.11.2024.
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