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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Exhaustions- und Grenzmethode.
Verschwindens, indem er eine neue Definition der Gleichheit
gestattet. Diese beruht darauf, daß die Größe nicht als eine
fertige, wie unter dem Denkmittel der Substanzialität, betrachtet
wird, sondern als eine werdende, gegeben durch ein Gesetz
des Werdens. Gleich
ist dann dasjenige, was unter
gleichem Gesetze entsteht, was durch dieselbe Bedin-
gung des Werdens gegeben ist
. Dieses Verfahren des
Denkens ist unbeschreibbar und nicht ableitbar aus demjenigen
Verfahren, welches in der bloßen Analyse der gegebenen
Größe besteht; denn diese Analyse kommt eben zu keinem
Ende, sie hat das einmal Gesetzte in neuen und immer neuen
Teilen vor sich. Die Exhaustionsmethode war ein solches
analytisches Verfahren, bei welchem nur zuletzt nachgewiesen
wurde, daß das erhaltene Resultat richtig ist. Die Grenz-
methode dagegen ist positiv synthetisch. Sie setzt durch einen
besonderen Denkakt die Grenze; ebenso setzt sie den Punkt
während seiner Bewegung auf der Linie. Wie der Substanz-
begriff die Realität eines als seiend Gegebenen fixiert und er-
kennen lehrt, so fixiert der Infinitesimalbegriff die Realität
eines Veränderlichen und läßt das Werdende als werdend
erkennen. Das sinnliche Zeichen des Werdenden aber ist die
Empfindung, für sie hatte der Grieche keine Wissenschaft.
Das Denkmittel der Substanzialität erfaßte nur das Seiende.
So blieben die Figuren starr im Kontinuum des Raumes, die
Zahl starr in ihrer Diskontinuität, einen Übergang gab es
nicht. Das Kontinuum selbst wurde nicht durch Bewegung
erzeugt, sondern es war das, dessen Teile so beschaffen waren,
daß der Anfang des einen Teils das Ende des andren bildete.
Das ist ebenfalls eine analytische, keine synthetische Definition.

Der Mangel der begrifflichen Beherrschung des Kontinuums
schied nicht nur Geometrie und Arithmetik voneinander, son-
dern er richtete auch innerhalb der Wissenschaft der stetigen
Raumgröße eine trennende Schranke auf zwischen der geraden
und der krummen Linie, der ebenen und der gekrümmten Fläche.
Der Begriff der Länge einer geraden Linie läßt sich durch
das Verhältnis derselben zur Einheit definieren; was es aber
heißen soll, daß eine krumme Linie ein Verhältnis zu einer
geradlinigen Maßeinheit besitze, kann man nicht absehen,
denn letztere ist auf der ersteren nicht abtragbar. Das Problem

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Exhaustions- und Grenzmethode.
Verschwindens, indem er eine neue Definition der Gleichheit
gestattet. Diese beruht darauf, daß die Größe nicht als eine
fertige, wie unter dem Denkmittel der Substanzialität, betrachtet
wird, sondern als eine werdende, gegeben durch ein Gesetz
des Werdens. Gleich
ist dann dasjenige, was unter
gleichem Gesetze entsteht, was durch dieselbe Bedin-
gung des Werdens gegeben ist
. Dieses Verfahren des
Denkens ist unbeschreibbar und nicht ableitbar aus demjenigen
Verfahren, welches in der bloßen Analyse der gegebenen
Größe besteht; denn diese Analyse kommt eben zu keinem
Ende, sie hat das einmal Gesetzte in neuen und immer neuen
Teilen vor sich. Die Exhaustionsmethode war ein solches
analytisches Verfahren, bei welchem nur zuletzt nachgewiesen
wurde, daß das erhaltene Resultat richtig ist. Die Grenz-
methode dagegen ist positiv synthetisch. Sie setzt durch einen
besonderen Denkakt die Grenze; ebenso setzt sie den Punkt
während seiner Bewegung auf der Linie. Wie der Substanz-
begriff die Realität eines als seiend Gegebenen fixiert und er-
kennen lehrt, so fixiert der Infinitesimalbegriff die Realität
eines Veränderlichen und läßt das Werdende als werdend
erkennen. Das sinnliche Zeichen des Werdenden aber ist die
Empfindung, für sie hatte der Grieche keine Wissenschaft.
Das Denkmittel der Substanzialität erfaßte nur das Seiende.
So blieben die Figuren starr im Kontinuum des Raumes, die
Zahl starr in ihrer Diskontinuität, einen Übergang gab es
nicht. Das Kontinuum selbst wurde nicht durch Bewegung
erzeugt, sondern es war das, dessen Teile so beschaffen waren,
daß der Anfang des einen Teils das Ende des andren bildete.
Das ist ebenfalls eine analytische, keine synthetische Definition.

Der Mangel der begrifflichen Beherrschung des Kontinuums
schied nicht nur Geometrie und Arithmetik voneinander, son-
dern er richtete auch innerhalb der Wissenschaft der stetigen
Raumgröße eine trennende Schranke auf zwischen der geraden
und der krummen Linie, der ebenen und der gekrümmten Fläche.
Der Begriff der Länge einer geraden Linie läßt sich durch
das Verhältnis derselben zur Einheit definieren; was es aber
heißen soll, daß eine krumme Linie ein Verhältnis zu einer
geradlinigen Maßeinheit besitze, kann man nicht absehen,
denn letztere ist auf der ersteren nicht abtragbar. Das Problem

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[179/0197] Exhaustions- und Grenzmethode. Verschwindens, indem er eine neue Definition der Gleichheit gestattet. Diese beruht darauf, daß die Größe nicht als eine fertige, wie unter dem Denkmittel der Substanzialität, betrachtet wird, sondern als eine werdende, gegeben durch ein Gesetz des Werdens. Gleich ist dann dasjenige, was unter gleichem Gesetze entsteht, was durch dieselbe Bedin- gung des Werdens gegeben ist. Dieses Verfahren des Denkens ist unbeschreibbar und nicht ableitbar aus demjenigen Verfahren, welches in der bloßen Analyse der gegebenen Größe besteht; denn diese Analyse kommt eben zu keinem Ende, sie hat das einmal Gesetzte in neuen und immer neuen Teilen vor sich. Die Exhaustionsmethode war ein solches analytisches Verfahren, bei welchem nur zuletzt nachgewiesen wurde, daß das erhaltene Resultat richtig ist. Die Grenz- methode dagegen ist positiv synthetisch. Sie setzt durch einen besonderen Denkakt die Grenze; ebenso setzt sie den Punkt während seiner Bewegung auf der Linie. Wie der Substanz- begriff die Realität eines als seiend Gegebenen fixiert und er- kennen lehrt, so fixiert der Infinitesimalbegriff die Realität eines Veränderlichen und läßt das Werdende als werdend erkennen. Das sinnliche Zeichen des Werdenden aber ist die Empfindung, für sie hatte der Grieche keine Wissenschaft. Das Denkmittel der Substanzialität erfaßte nur das Seiende. So blieben die Figuren starr im Kontinuum des Raumes, die Zahl starr in ihrer Diskontinuität, einen Übergang gab es nicht. Das Kontinuum selbst wurde nicht durch Bewegung erzeugt, sondern es war das, dessen Teile so beschaffen waren, daß der Anfang des einen Teils das Ende des andren bildete. Das ist ebenfalls eine analytische, keine synthetische Definition. Der Mangel der begrifflichen Beherrschung des Kontinuums schied nicht nur Geometrie und Arithmetik voneinander, son- dern er richtete auch innerhalb der Wissenschaft der stetigen Raumgröße eine trennende Schranke auf zwischen der geraden und der krummen Linie, der ebenen und der gekrümmten Fläche. Der Begriff der Länge einer geraden Linie läßt sich durch das Verhältnis derselben zur Einheit definieren; was es aber heißen soll, daß eine krumme Linie ein Verhältnis zu einer geradlinigen Maßeinheit besitze, kann man nicht absehen, denn letztere ist auf der ersteren nicht abtragbar. Das Problem 12*

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/197>, abgerufen am 29.11.2024.