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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Griechische Mathematik: Zahl.
nuierliche Veränderung zugänglich ist. Aristoteles empfand
dies wohl, wenn er sagte, daß Sich-bewegen kein Zählen sei,
denn ersteres gehe stetig, letzteres diskontinuierlich vor sich.1
Aber er wollte trotzdem den Begriff der Bewegung unter Ab-
lösung von der Anschauung durch das Denken allein erfassen,
ohne jenen neuen Begriff zu besitzen, und schied daher die
stetige Raumgröße prinzipiell von der diskreten Zahlgröße.2
Die griechischen Geometer schließen aus ihren Beweisen die
Anwendung der stetigen Bewegung aus.

Wir finden somit die griechische Mathematik auf die
geometrische Konstruktion und die Aufsuchung von Verhält-
nissen zwischen geometrischen Größen beschränkt. Geometri-
sches läßt sich nicht durch Arithmetisches beweisen, außer in
gewissen Fällen, wo die Größen Zahlen sind; arithmetische
Beziehungen werden allerdings geometrisch versinnbildlicht,
wenn die Zahlen als kommensurable Strecken darstellbar sind.3
Im allgemeinen aber handelt es sich in Geometrie und Arith-
metik um ganz verschiedene Gegenstände. Der Übergang von
der einen zur andern ist eine #. Das
ist ein Satz des Aristoteles.4 Daher war es den Griechen
unmöglich, zu einem Begriff des Unendlichkleinen zu gelangen,
welcher eine fruchtbare und positive Grenzmethode zugelassen
hätte. Probleme, welche auf eine solche hätten führen können,
sind vielfach von ihnen behandelt worden, sie beginnen schon
mit dem Gedanken des Antiphon, den Kreis zu erschöpfen,
indem er über den Seiten des eingeschriebenen Quadrats gleich-
schenklige Dreiecke beschreibt, über deren Seiten desgleichen,
und so fort; und Bryson gelingt es bereits durch Anwendung
des umschriebenen Polygons eine obere Grenze zu finden.
Aber die Annäherung an den wahren Wert vermittels der
sogenannten Exhaustionsmethode wird niemals durch einen
wirklichen Grenzübergang erreicht. Die Lehre von der Pro-
portionalität der Seiten ähnlicher Figuren, die Quadratur des
Kreises, selbst die berühmte Quadratur der Parabel durch
Archimedes, welche auf ein rationales Resultat führt, werden

1 De lin. insecab. p. 969 b. 2.
2 A. a. O. p. 969 a. 12--17.
3 So in Euklids Elementen, 7., 8. u. 9. Buch. S. Vogt, a. a. O. S. 48, 49.
4 Anal. post. I, 7. p. 75b, 3 ff.
Laßwitz. 12

Griechische Mathematik: Zahl.
nuierliche Veränderung zugänglich ist. Aristoteles empfand
dies wohl, wenn er sagte, daß Sich-bewegen kein Zählen sei,
denn ersteres gehe stetig, letzteres diskontinuierlich vor sich.1
Aber er wollte trotzdem den Begriff der Bewegung unter Ab-
lösung von der Anschauung durch das Denken allein erfassen,
ohne jenen neuen Begriff zu besitzen, und schied daher die
stetige Raumgröße prinzipiell von der diskreten Zahlgröße.2
Die griechischen Geometer schließen aus ihren Beweisen die
Anwendung der stetigen Bewegung aus.

Wir finden somit die griechische Mathematik auf die
geometrische Konstruktion und die Aufsuchung von Verhält-
nissen zwischen geometrischen Größen beschränkt. Geometri-
sches läßt sich nicht durch Arithmetisches beweisen, außer in
gewissen Fällen, wo die Größen Zahlen sind; arithmetische
Beziehungen werden allerdings geometrisch versinnbildlicht,
wenn die Zahlen als kommensurable Strecken darstellbar sind.3
Im allgemeinen aber handelt es sich in Geometrie und Arith-
metik um ganz verschiedene Gegenstände. Der Übergang von
der einen zur andern ist eine #. Das
ist ein Satz des Aristoteles.4 Daher war es den Griechen
unmöglich, zu einem Begriff des Unendlichkleinen zu gelangen,
welcher eine fruchtbare und positive Grenzmethode zugelassen
hätte. Probleme, welche auf eine solche hätten führen können,
sind vielfach von ihnen behandelt worden, sie beginnen schon
mit dem Gedanken des Antiphon, den Kreis zu erschöpfen,
indem er über den Seiten des eingeschriebenen Quadrats gleich-
schenklige Dreiecke beschreibt, über deren Seiten desgleichen,
und so fort; und Bryson gelingt es bereits durch Anwendung
des umschriebenen Polygons eine obere Grenze zu finden.
Aber die Annäherung an den wahren Wert vermittels der
sogenannten Exhaustionsmethode wird niemals durch einen
wirklichen Grenzübergang erreicht. Die Lehre von der Pro-
portionalität der Seiten ähnlicher Figuren, die Quadratur des
Kreises, selbst die berühmte Quadratur der Parabel durch
Archimedes, welche auf ein rationales Resultat führt, werden

1 De lin. insecab. p. 969 b. 2.
2 A. a. O. p. 969 a. 12—17.
3 So in Euklids Elementen, 7., 8. u. 9. Buch. S. Vogt, a. a. O. S. 48, 49.
4 Anal. post. I, 7. p. 75b, 3 ff.
Laßwitz. 12
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[177/0195] Griechische Mathematik: Zahl. nuierliche Veränderung zugänglich ist. Aristoteles empfand dies wohl, wenn er sagte, daß Sich-bewegen kein Zählen sei, denn ersteres gehe stetig, letzteres diskontinuierlich vor sich. 1 Aber er wollte trotzdem den Begriff der Bewegung unter Ab- lösung von der Anschauung durch das Denken allein erfassen, ohne jenen neuen Begriff zu besitzen, und schied daher die stetige Raumgröße prinzipiell von der diskreten Zahlgröße. 2 Die griechischen Geometer schließen aus ihren Beweisen die Anwendung der stetigen Bewegung aus. Wir finden somit die griechische Mathematik auf die geometrische Konstruktion und die Aufsuchung von Verhält- nissen zwischen geometrischen Größen beschränkt. Geometri- sches läßt sich nicht durch Arithmetisches beweisen, außer in gewissen Fällen, wo die Größen Zahlen sind; arithmetische Beziehungen werden allerdings geometrisch versinnbildlicht, wenn die Zahlen als kommensurable Strecken darstellbar sind. 3 Im allgemeinen aber handelt es sich in Geometrie und Arith- metik um ganz verschiedene Gegenstände. Der Übergang von der einen zur andern ist eine #. Das ist ein Satz des Aristoteles. 4 Daher war es den Griechen unmöglich, zu einem Begriff des Unendlichkleinen zu gelangen, welcher eine fruchtbare und positive Grenzmethode zugelassen hätte. Probleme, welche auf eine solche hätten führen können, sind vielfach von ihnen behandelt worden, sie beginnen schon mit dem Gedanken des Antiphon, den Kreis zu erschöpfen, indem er über den Seiten des eingeschriebenen Quadrats gleich- schenklige Dreiecke beschreibt, über deren Seiten desgleichen, und so fort; und Bryson gelingt es bereits durch Anwendung des umschriebenen Polygons eine obere Grenze zu finden. Aber die Annäherung an den wahren Wert vermittels der sogenannten Exhaustionsmethode wird niemals durch einen wirklichen Grenzübergang erreicht. Die Lehre von der Pro- portionalität der Seiten ähnlicher Figuren, die Quadratur des Kreises, selbst die berühmte Quadratur der Parabel durch Archimedes, welche auf ein rationales Resultat führt, werden 1 De lin. insecab. p. 969 b. 2. 2 A. a. O. p. 969 a. 12—17. 3 So in Euklids Elementen, 7., 8. u. 9. Buch. S. Vogt, a. a. O. S. 48, 49. 4 Anal. post. I, 7. p. 75b, 3 ff. Laßwitz. 12

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/195>, abgerufen am 29.11.2024.