ihre Beschränkung verleiht. Zahl und Größe sind bei allen griechischen Mathematikern völlig getrennte Begriffe;1 sind die Seiten eines Rechtecks inkommensurabel, so hat das Pro- dukt ihrer Maßzahlen keinen Sinn.2 Das Irrationale gilt nicht als Zahl, und Euklides spricht dies ausdrücklich in dem Satze aus: "Inkommensurable Größen verhalten sich zu einander nicht wie Zahlen."3
Es ist dieselbe Denkart, vermöge deren die Hellenen den Schritt nicht thun konnten, das Irrationale unter die Zahlen aufzunehmen und Zahl- und Raumgröße in Verbindung zu setzen, welche in Platons Rationalismus zu Tage tritt, indem sie die sinnliche Anschauung als Erkenntnismittel ausschließt. Nur die allgemeinen Begriffe sollten durch ihre verstandes- mäßige Bearbeitung zur Wahrheit führen können, das unmittel- bar Sinnliche gab keine Erkenntnis des wahrhaft Seienden. Die Mathematik beschränkte sich selbst in einseitiger Weise. In jedem Beweise mußte aufs gewissenhafteste untersucht werden, ob die vorgeschlagene Hilfslinie möglich, die ange- nommene Konstruktion statthaft sei, der Anschauung der Figur blieb dabei nichts überlassen. Dadurch verschloß man sich den Weg, zu einem befriedigenden Gebrauche des Stetigkeits- begriffs zu gelangen. Das Kontinuum in Raum, Zeit und Bewegung bedarf allerdings, um wissenschaftliches Hilfsmittel zu werden, einer begrifflichen Fixierung, aber dieselbe kann nicht durch das Denkmittel der Substanzialität allein unter dem Ausschluß der Sinnlichkeit vor sich gehen. Vielmehr liegt die Lösung des Problems in der Erkenntnis der eigen- tümlichen Verschmelzung, in welcher die Gegebenheit in der Anschauung mit dem Denken steht, und die Antinomie im Wesen des Kontinuums konnte daher auch nicht eher bewäl- tigt werden, als bis man die Gleichberechtigung von Verstand und Sinnlichkeit in der Erzeugung der Erfahrung erkannt hatte. Das Denken führt notwendig zu den Widersprüchen, welche Zeno klar gelegt hatte, wenn man nicht einen neuen Begriff gewinnt für dasjenige, was der Anschauung unmittelbar als konti-
1 S. Hankel, Gesch. d. M. S. 102.
2 Vgl. H. Vogt, Der Grenzbegriff in der Elementarmathematik, Breslau 1885. S. 49.
3Elem. X, 7. Ed. Heiberg III p. 23.
Beschränkung der griechischen Mathematik.
ihre Beschränkung verleiht. Zahl und Größe sind bei allen griechischen Mathematikern völlig getrennte Begriffe;1 sind die Seiten eines Rechtecks inkommensurabel, so hat das Pro- dukt ihrer Maßzahlen keinen Sinn.2 Das Irrationale gilt nicht als Zahl, und Euklides spricht dies ausdrücklich in dem Satze aus: „Inkommensurable Größen verhalten sich zu einander nicht wie Zahlen.‟3
Es ist dieselbe Denkart, vermöge deren die Hellenen den Schritt nicht thun konnten, das Irrationale unter die Zahlen aufzunehmen und Zahl- und Raumgröße in Verbindung zu setzen, welche in Platons Rationalismus zu Tage tritt, indem sie die sinnliche Anschauung als Erkenntnismittel ausschließt. Nur die allgemeinen Begriffe sollten durch ihre verstandes- mäßige Bearbeitung zur Wahrheit führen können, das unmittel- bar Sinnliche gab keine Erkenntnis des wahrhaft Seienden. Die Mathematik beschränkte sich selbst in einseitiger Weise. In jedem Beweise mußte aufs gewissenhafteste untersucht werden, ob die vorgeschlagene Hilfslinie möglich, die ange- nommene Konstruktion statthaft sei, der Anschauung der Figur blieb dabei nichts überlassen. Dadurch verschloß man sich den Weg, zu einem befriedigenden Gebrauche des Stetigkeits- begriffs zu gelangen. Das Kontinuum in Raum, Zeit und Bewegung bedarf allerdings, um wissenschaftliches Hilfsmittel zu werden, einer begrifflichen Fixierung, aber dieselbe kann nicht durch das Denkmittel der Substanzialität allein unter dem Ausschluß der Sinnlichkeit vor sich gehen. Vielmehr liegt die Lösung des Problems in der Erkenntnis der eigen- tümlichen Verschmelzung, in welcher die Gegebenheit in der Anschauung mit dem Denken steht, und die Antinomie im Wesen des Kontinuums konnte daher auch nicht eher bewäl- tigt werden, als bis man die Gleichberechtigung von Verstand und Sinnlichkeit in der Erzeugung der Erfahrung erkannt hatte. Das Denken führt notwendig zu den Widersprüchen, welche Zeno klar gelegt hatte, wenn man nicht einen neuen Begriff gewinnt für dasjenige, was der Anschauung unmittelbar als konti-
1 S. Hankel, Gesch. d. M. S. 102.
2 Vgl. H. Vogt, Der Grenzbegriff in der Elementarmathematik, Breslau 1885. S. 49.
3Elem. X, 7. Ed. Heiberg III p. 23.
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Beschränkung der griechischen Mathematik.
ihre Beschränkung verleiht. Zahl und Größe sind bei allen
griechischen Mathematikern völlig getrennte Begriffe; 1 sind
die Seiten eines Rechtecks inkommensurabel, so hat das Pro-
dukt ihrer Maßzahlen keinen Sinn. 2 Das Irrationale gilt nicht
als Zahl, und Euklides spricht dies ausdrücklich in dem Satze
aus: „Inkommensurable Größen verhalten sich zu einander nicht
wie Zahlen.‟ 3
Es ist dieselbe Denkart, vermöge deren die Hellenen den
Schritt nicht thun konnten, das Irrationale unter die Zahlen
aufzunehmen und Zahl- und Raumgröße in Verbindung zu
setzen, welche in Platons Rationalismus zu Tage tritt, indem
sie die sinnliche Anschauung als Erkenntnismittel ausschließt.
Nur die allgemeinen Begriffe sollten durch ihre verstandes-
mäßige Bearbeitung zur Wahrheit führen können, das unmittel-
bar Sinnliche gab keine Erkenntnis des wahrhaft Seienden.
Die Mathematik beschränkte sich selbst in einseitiger Weise.
In jedem Beweise mußte aufs gewissenhafteste untersucht
werden, ob die vorgeschlagene Hilfslinie möglich, die ange-
nommene Konstruktion statthaft sei, der Anschauung der Figur
blieb dabei nichts überlassen. Dadurch verschloß man sich
den Weg, zu einem befriedigenden Gebrauche des Stetigkeits-
begriffs zu gelangen. Das Kontinuum in Raum, Zeit und
Bewegung bedarf allerdings, um wissenschaftliches Hilfsmittel
zu werden, einer begrifflichen Fixierung, aber dieselbe kann
nicht durch das Denkmittel der Substanzialität allein unter
dem Ausschluß der Sinnlichkeit vor sich gehen. Vielmehr
liegt die Lösung des Problems in der Erkenntnis der eigen-
tümlichen Verschmelzung, in welcher die Gegebenheit in der
Anschauung mit dem Denken steht, und die Antinomie im
Wesen des Kontinuums konnte daher auch nicht eher bewäl-
tigt werden, als bis man die Gleichberechtigung von Verstand
und Sinnlichkeit in der Erzeugung der Erfahrung erkannt
hatte. Das Denken führt notwendig zu den Widersprüchen,
welche Zeno klar gelegt hatte, wenn man nicht einen neuen Begriff
gewinnt für dasjenige, was der Anschauung unmittelbar als konti-
1 S. Hankel, Gesch. d. M. S. 102.
2 Vgl. H. Vogt, Der Grenzbegriff in der Elementarmathematik, Breslau
1885. S. 49.
3 Elem. X, 7. Ed. Heiberg III p. 23.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/194>, abgerufen am 29.11.2024.
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