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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Ibn Roschd: Eduktion der Formen.
Aristoteles ist für ihn der absolute Philosoph, welcher den
höchsten Grad des menschlischen Denkens besaß, der erreicht
werden konnte; zu seinen Schriften verfaßte er ausführliche,
zu einigen dreifache Kommentare, so daß man ihn schlecht-
weg den Kommentator nannte. Als solcher war sein Einfluß
auf die Scholastik ein weitreichender und bedeutungsvoller,
insbesondere durch zwei eigenartige, aber nicht ohne Konse-
quenz aus dem aristotelischen Systeme gezogene Anschau-
ungen. Es sind dies die Lehre von der Eduktion der
Formen aus der Materie
und von der Einheit des speku-
lativen Verstandes in allen Menschen. Die letztere steht mit
der ersteren in Verbindung, insofern der allgemeine aktive
Verstand nicht in den einzelnen Individuen den potenziellen
oder materiellen Verstand hervorrufen könnte, wenn nicht in
denselben die Disposition dazu läge. Da nun der Ver-
stand nur die Formen erfassen kann, die Individuen aber
durch die Materie bedingt sind, so müssen die Formen bereits
in der Materie angelegt sein.

Da die Materie ebensogut ewig ist wie Gott, so kann
nach Ibn Roschd nichts Neues geschaffen, sondern nur das
Vorhandene in andren Verhältnissen in Bewegung gesetzt
werden. Der Weltbeweger (Gott) bewirkt daher nichts andres,
als dasjenige, was bereits in der Potenzialität vorhanden war,
zur Aktualität zu führen. Neue Formen vermag er nicht zu
erschaffen, da aus nichts nicht etwas werden kann, sondern
alle Formen sind bereits in der Materie keimartig an-
gelegt
und werden nur von Gott durch Vermittelung der
höheren Formen zur Wirklichkeit entfaltet. Der ganze Welt-
prozeß ist somit eine Bewegung, eine Entwickelung der schon
vorhandenen Formen in neuen Anordnungen. Die Form kommt
nicht mehr als ein Äußerliches hinzu, sondern die Bewegung
der Sphären -- zuletzt also Gott -- läßt dieselbe aus der
Potenzialität zur Energie kommen. Bei dieser Auffassung der
Materie hat das aristotelische System der substanziellen Formen
eine Wendung zu einheitlicher Weltauffassung bekommen,
welche der Entwickelung einer allgemeinen Theorie der Natur
nur günstig sein konnte. Und in der That ist ja der averroistische
Gedanke von einer zeitlichen Entwickelung der in der Materie
ein für allemal angelegten Formen in immer neuer Gestalt

Ibn Roschd: Eduktion der Formen.
Aristoteles ist für ihn der absolute Philosoph, welcher den
höchsten Grad des menschlischen Denkens besaß, der erreicht
werden konnte; zu seinen Schriften verfaßte er ausführliche,
zu einigen dreifache Kommentare, so daß man ihn schlecht-
weg den Kommentator nannte. Als solcher war sein Einfluß
auf die Scholastik ein weitreichender und bedeutungsvoller,
insbesondere durch zwei eigenartige, aber nicht ohne Konse-
quenz aus dem aristotelischen Systeme gezogene Anschau-
ungen. Es sind dies die Lehre von der Eduktion der
Formen aus der Materie
und von der Einheit des speku-
lativen Verstandes in allen Menschen. Die letztere steht mit
der ersteren in Verbindung, insofern der allgemeine aktive
Verstand nicht in den einzelnen Individuen den potenziellen
oder materiellen Verstand hervorrufen könnte, wenn nicht in
denselben die Disposition dazu läge. Da nun der Ver-
stand nur die Formen erfassen kann, die Individuen aber
durch die Materie bedingt sind, so müssen die Formen bereits
in der Materie angelegt sein.

Da die Materie ebensogut ewig ist wie Gott, so kann
nach Ibn Roschd nichts Neues geschaffen, sondern nur das
Vorhandene in andren Verhältnissen in Bewegung gesetzt
werden. Der Weltbeweger (Gott) bewirkt daher nichts andres,
als dasjenige, was bereits in der Potenzialität vorhanden war,
zur Aktualität zu führen. Neue Formen vermag er nicht zu
erschaffen, da aus nichts nicht etwas werden kann, sondern
alle Formen sind bereits in der Materie keimartig an-
gelegt
und werden nur von Gott durch Vermittelung der
höheren Formen zur Wirklichkeit entfaltet. Der ganze Welt-
prozeß ist somit eine Bewegung, eine Entwickelung der schon
vorhandenen Formen in neuen Anordnungen. Die Form kommt
nicht mehr als ein Äußerliches hinzu, sondern die Bewegung
der Sphären — zuletzt also Gott — läßt dieselbe aus der
Potenzialität zur Energie kommen. Bei dieser Auffassung der
Materie hat das aristotelische System der substanziellen Formen
eine Wendung zu einheitlicher Weltauffassung bekommen,
welche der Entwickelung einer allgemeinen Theorie der Natur
nur günstig sein konnte. Und in der That ist ja der averroistische
Gedanke von einer zeitlichen Entwickelung der in der Materie
ein für allemal angelegten Formen in immer neuer Gestalt

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[171/0189] Ibn Roschd: Eduktion der Formen. Aristoteles ist für ihn der absolute Philosoph, welcher den höchsten Grad des menschlischen Denkens besaß, der erreicht werden konnte; zu seinen Schriften verfaßte er ausführliche, zu einigen dreifache Kommentare, so daß man ihn schlecht- weg den Kommentator nannte. Als solcher war sein Einfluß auf die Scholastik ein weitreichender und bedeutungsvoller, insbesondere durch zwei eigenartige, aber nicht ohne Konse- quenz aus dem aristotelischen Systeme gezogene Anschau- ungen. Es sind dies die Lehre von der Eduktion der Formen aus der Materie und von der Einheit des speku- lativen Verstandes in allen Menschen. Die letztere steht mit der ersteren in Verbindung, insofern der allgemeine aktive Verstand nicht in den einzelnen Individuen den potenziellen oder materiellen Verstand hervorrufen könnte, wenn nicht in denselben die Disposition dazu läge. Da nun der Ver- stand nur die Formen erfassen kann, die Individuen aber durch die Materie bedingt sind, so müssen die Formen bereits in der Materie angelegt sein. Da die Materie ebensogut ewig ist wie Gott, so kann nach Ibn Roschd nichts Neues geschaffen, sondern nur das Vorhandene in andren Verhältnissen in Bewegung gesetzt werden. Der Weltbeweger (Gott) bewirkt daher nichts andres, als dasjenige, was bereits in der Potenzialität vorhanden war, zur Aktualität zu führen. Neue Formen vermag er nicht zu erschaffen, da aus nichts nicht etwas werden kann, sondern alle Formen sind bereits in der Materie keimartig an- gelegt und werden nur von Gott durch Vermittelung der höheren Formen zur Wirklichkeit entfaltet. Der ganze Welt- prozeß ist somit eine Bewegung, eine Entwickelung der schon vorhandenen Formen in neuen Anordnungen. Die Form kommt nicht mehr als ein Äußerliches hinzu, sondern die Bewegung der Sphären — zuletzt also Gott — läßt dieselbe aus der Potenzialität zur Energie kommen. Bei dieser Auffassung der Materie hat das aristotelische System der substanziellen Formen eine Wendung zu einheitlicher Weltauffassung bekommen, welche der Entwickelung einer allgemeinen Theorie der Natur nur günstig sein konnte. Und in der That ist ja der averroistische Gedanke von einer zeitlichen Entwickelung der in der Materie ein für allemal angelegten Formen in immer neuer Gestalt

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/189>, abgerufen am 28.11.2024.