Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Alfarabi. Ibn Sina.
besitzt, welche ebenso ihre Form ist, wie die Seele des Menschen
als seine Form betrachtet werden kann. Diese Kette von
Weltbewegern ist eingeschoben, um die Einheit Gottes mit
der Vielheit der Materie zu vermitteln; aber es ist ein astro-
nomisches System zur Aushilfe des metaphysischen verwendet
worden. So zeigt sich überall bei den Arabern die Neigung,
beobachtete Vorgänge der Natur und physische Abhängigkeiten
an Stelle der bloß logischen Inhärenz zu setzen und auf
diese Weise dem Naturverständnis näher zu kommen. Im
Gegensatz zu Alfarabi nimmt Ibn Sina (980--1055), sich enger
an Aristoteles anschließend, in Übereinstimmung mit diesem
an, daß die Materie gleich Gott von Ewigkeit her bestehe.
Diese Annahme einer ewigen, unerschaffenen Materie bleibt
von nun ab ebenfalls ein bemerkenswertes Eigentum der
arabischen Philosophen, wodurch sie sich in Gegensatz zu der
christlichen Scholastik stellen. In dieser Materie sind -- und
das lehrt auch schon Alfarabi -- Materie und Form aufs
engste und notwendig verbunden, so daß keine ohne die andre
sein kann; nach Alfarabi besteht z. B. die Form der vier
Elemente in den ihnen eigentümlichen Bewegungen, weil durch
dieselbe ihre Verschiedenheit hervorgebracht wird. Wenn aber
Ibn Sina die Ewigkeit der Materie annimmt, zugleich mit der
Einheit des nur auf das Allgemeine gerichteten thätigen Ver-
standes Gottes, so bleibt ihm die Vielheit der Erfahrungswelt
zu erklären übrig. Hier betont er nun in besonders lebhafter
Weise das Prinzip der Individuation. Die Materie ist der
Grund der besonderen Dinge, welche kein notwendiges, sondern
nur ein mögliches Dasein haben, sie ist der Grund der Vielheit
der Individuen; nur von seiten der Materie kann ein Unter-
schied zwischen sonst gleichen Individuen existieren.

Wir werden auf dem Gebiete der physikalischen Theorie
Ibn Sina noch weiter zu erwähnen haben. In der Metaphysik be-
sitzt den bedeutendsten Einfluß für die Entwickelung der Theorie
der Materie der größte und letzte der arabischen Philosophen,
Ibn Roschd,1 geboren zu Cordova 1126, gestorben in Marokko 1198.

1 Vgl. Renan, Averroes et l'Averroisme, Paris 1861, und die erwähnten
Geschichtswerke von Ritter: Christl. Philos. I S. 586 ff. Gesch. d. Phil. VIII.
S. 115 ff. Munk, Melanges S. 418 ff.

Alfarabi. Ibn Sina.
besitzt, welche ebenso ihre Form ist, wie die Seele des Menschen
als seine Form betrachtet werden kann. Diese Kette von
Weltbewegern ist eingeschoben, um die Einheit Gottes mit
der Vielheit der Materie zu vermitteln; aber es ist ein astro-
nomisches System zur Aushilfe des metaphysischen verwendet
worden. So zeigt sich überall bei den Arabern die Neigung,
beobachtete Vorgänge der Natur und physische Abhängigkeiten
an Stelle der bloß logischen Inhärenz zu setzen und auf
diese Weise dem Naturverständnis näher zu kommen. Im
Gegensatz zu Alfarabi nimmt Ibn Sina (980—1055), sich enger
an Aristoteles anschließend, in Übereinstimmung mit diesem
an, daß die Materie gleich Gott von Ewigkeit her bestehe.
Diese Annahme einer ewigen, unerschaffenen Materie bleibt
von nun ab ebenfalls ein bemerkenswertes Eigentum der
arabischen Philosophen, wodurch sie sich in Gegensatz zu der
christlichen Scholastik stellen. In dieser Materie sind — und
das lehrt auch schon Alfarabi — Materie und Form aufs
engste und notwendig verbunden, so daß keine ohne die andre
sein kann; nach Alfarabi besteht z. B. die Form der vier
Elemente in den ihnen eigentümlichen Bewegungen, weil durch
dieselbe ihre Verschiedenheit hervorgebracht wird. Wenn aber
Ibn Sina die Ewigkeit der Materie annimmt, zugleich mit der
Einheit des nur auf das Allgemeine gerichteten thätigen Ver-
standes Gottes, so bleibt ihm die Vielheit der Erfahrungswelt
zu erklären übrig. Hier betont er nun in besonders lebhafter
Weise das Prinzip der Individuation. Die Materie ist der
Grund der besonderen Dinge, welche kein notwendiges, sondern
nur ein mögliches Dasein haben, sie ist der Grund der Vielheit
der Individuen; nur von seiten der Materie kann ein Unter-
schied zwischen sonst gleichen Individuen existieren.

Wir werden auf dem Gebiete der physikalischen Theorie
Ibn Sina noch weiter zu erwähnen haben. In der Metaphysik be-
sitzt den bedeutendsten Einfluß für die Entwickelung der Theorie
der Materie der größte und letzte der arabischen Philosophen,
Ibn Roschd,1 geboren zu Cordova 1126, gestorben in Marokko 1198.

1 Vgl. Renan, Averroès et l’Averroisme, Paris 1861, und die erwähnten
Geschichtswerke von Ritter: Christl. Philos. I S. 586 ff. Gesch. d. Phil. VIII.
S. 115 ff. Munk, Mélanges S. 418 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0188" n="170"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Alfarabi. Ibn Sina</hi>.</fw><lb/>
besitzt, welche ebenso ihre Form ist, wie die Seele des Menschen<lb/>
als seine Form betrachtet werden kann. Diese Kette von<lb/>
Weltbewegern ist eingeschoben, um die Einheit Gottes mit<lb/>
der Vielheit der Materie zu vermitteln; aber es ist ein astro-<lb/>
nomisches System zur Aushilfe des metaphysischen verwendet<lb/>
worden. So zeigt sich überall bei den Arabern die Neigung,<lb/>
beobachtete Vorgänge der Natur und physische Abhängigkeiten<lb/>
an Stelle der bloß logischen Inhärenz zu setzen und auf<lb/>
diese Weise dem Naturverständnis näher zu kommen. Im<lb/>
Gegensatz zu <hi rendition="#k">Alfarabi</hi> nimmt <hi rendition="#k">Ibn Sina</hi> (980&#x2014;1055), sich enger<lb/>
an <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> anschließend, in Übereinstimmung mit diesem<lb/>
an, daß die Materie gleich Gott von Ewigkeit her bestehe.<lb/>
Diese Annahme einer ewigen, unerschaffenen Materie bleibt<lb/>
von nun ab ebenfalls ein bemerkenswertes Eigentum der<lb/>
arabischen Philosophen, wodurch sie sich in Gegensatz zu der<lb/>
christlichen Scholastik stellen. In dieser Materie sind &#x2014; und<lb/>
das lehrt auch schon <hi rendition="#k">Alfarabi</hi> &#x2014; Materie und Form aufs<lb/>
engste und notwendig verbunden, so daß keine ohne die andre<lb/>
sein kann; nach <hi rendition="#k">Alfarabi</hi> besteht z. B. die Form der vier<lb/>
Elemente in den ihnen eigentümlichen Bewegungen, weil durch<lb/>
dieselbe ihre Verschiedenheit hervorgebracht wird. Wenn aber<lb/><hi rendition="#k">Ibn Sina</hi> die Ewigkeit der Materie annimmt, zugleich mit der<lb/>
Einheit des nur auf das Allgemeine gerichteten thätigen Ver-<lb/>
standes Gottes, so bleibt ihm die Vielheit der Erfahrungswelt<lb/>
zu erklären übrig. Hier betont er nun in besonders lebhafter<lb/>
Weise das Prinzip der Individuation. Die Materie ist der<lb/>
Grund der besonderen Dinge, welche kein notwendiges, sondern<lb/>
nur ein mögliches Dasein haben, sie ist der Grund der Vielheit<lb/>
der Individuen; nur von seiten der Materie kann ein Unter-<lb/>
schied zwischen sonst gleichen Individuen existieren.</p><lb/>
            <p>Wir werden auf dem Gebiete der physikalischen Theorie<lb/><hi rendition="#k">Ibn Sina</hi> noch weiter zu erwähnen haben. In der Metaphysik be-<lb/>
sitzt den bedeutendsten Einfluß für die Entwickelung der Theorie<lb/>
der Materie der größte und letzte der arabischen Philosophen,<lb/><hi rendition="#k">Ibn Roschd</hi>,<note place="foot" n="1">Vgl. <hi rendition="#k">Renan</hi>, <hi rendition="#i">Averroès et l&#x2019;Averroisme</hi>, Paris 1861, und die erwähnten<lb/>
Geschichtswerke von <hi rendition="#k">Ritter</hi>: <hi rendition="#i">Christl. Philos.</hi> I S. 586 ff. <hi rendition="#i">Gesch. d. Phil.</hi> VIII.<lb/>
S. 115 ff. <hi rendition="#k">Munk</hi>, <hi rendition="#i">Mélanges</hi> S. 418 ff.</note> geboren zu Cordova 1126, gestorben in Marokko 1198.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0188] Alfarabi. Ibn Sina. besitzt, welche ebenso ihre Form ist, wie die Seele des Menschen als seine Form betrachtet werden kann. Diese Kette von Weltbewegern ist eingeschoben, um die Einheit Gottes mit der Vielheit der Materie zu vermitteln; aber es ist ein astro- nomisches System zur Aushilfe des metaphysischen verwendet worden. So zeigt sich überall bei den Arabern die Neigung, beobachtete Vorgänge der Natur und physische Abhängigkeiten an Stelle der bloß logischen Inhärenz zu setzen und auf diese Weise dem Naturverständnis näher zu kommen. Im Gegensatz zu Alfarabi nimmt Ibn Sina (980—1055), sich enger an Aristoteles anschließend, in Übereinstimmung mit diesem an, daß die Materie gleich Gott von Ewigkeit her bestehe. Diese Annahme einer ewigen, unerschaffenen Materie bleibt von nun ab ebenfalls ein bemerkenswertes Eigentum der arabischen Philosophen, wodurch sie sich in Gegensatz zu der christlichen Scholastik stellen. In dieser Materie sind — und das lehrt auch schon Alfarabi — Materie und Form aufs engste und notwendig verbunden, so daß keine ohne die andre sein kann; nach Alfarabi besteht z. B. die Form der vier Elemente in den ihnen eigentümlichen Bewegungen, weil durch dieselbe ihre Verschiedenheit hervorgebracht wird. Wenn aber Ibn Sina die Ewigkeit der Materie annimmt, zugleich mit der Einheit des nur auf das Allgemeine gerichteten thätigen Ver- standes Gottes, so bleibt ihm die Vielheit der Erfahrungswelt zu erklären übrig. Hier betont er nun in besonders lebhafter Weise das Prinzip der Individuation. Die Materie ist der Grund der besonderen Dinge, welche kein notwendiges, sondern nur ein mögliches Dasein haben, sie ist der Grund der Vielheit der Individuen; nur von seiten der Materie kann ein Unter- schied zwischen sonst gleichen Individuen existieren. Wir werden auf dem Gebiete der physikalischen Theorie Ibn Sina noch weiter zu erwähnen haben. In der Metaphysik be- sitzt den bedeutendsten Einfluß für die Entwickelung der Theorie der Materie der größte und letzte der arabischen Philosophen, Ibn Roschd, 1 geboren zu Cordova 1126, gestorben in Marokko 1198. 1 Vgl. Renan, Averroès et l’Averroisme, Paris 1861, und die erwähnten Geschichtswerke von Ritter: Christl. Philos. I S. 586 ff. Gesch. d. Phil. VIII. S. 115 ff. Munk, Mélanges S. 418 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/188
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/188>, abgerufen am 28.11.2024.