allen die Form der Einheit gemeinsam ist, während sie sich nur durch ihr Substrat unterscheiden. Die Einheit bedingt das Wesen der Materie; einer feinen und einfachen Materie ist die Einheit konform und bildet mit ihr ein aktuell unteilbares Ding; einer groben Materie gegenüber ist die Einheit zu schwach, um sie zu einen und ihrem eigenen Wesen zu verähn- lichen; infolgedessen tritt die Trennung und Zerstreuung der Materie und die Vervielfältigung und Teilung der Einheit ein.1
Zwischen Gott und der Körperwelt muß ein Mittleres existieren. Diese Vermittelung bilden die einfachen geistigen Substanzen, deren man im ganzen drei oder, wenn man will, fünf anzunehmen hat, nämlich der allgemeine Intellekt, die all- gemeine Seele, welche als vernünftige, vitale und vegetative zu unterscheiden ist, und die Natur. Jede folgende ist der vorangehenden untergeordnet, die Natur bewegt die Elemente, indem sie ihre Anziehung, Umwandlung und Ausscheidung bewirkt; die Körper haben keinerlei Bewegung in sich selbst.2
Des Aristoteles Begriff von Materie und Form, wonach jeder Gattungsbegriff für den allgemeineren als spezialisierende Form, für den engeren als zu bestimmende Materie angesehen werden kann, ist bei Ibn Gabirol mit Hilfe neuplatonischer Hypostasierungen und Emanationslehren zu einem metaphysischen System geworden, das offenbar vielfach an Scotus Erigena erinnert. Daher wird auch, was bei jener Gelegenheit über das Denkmittel der Substanzialität zu sagen war, zum großen Teil auf Ibn Gabirol anwendbar sein. In andrer Hinsicht aber steht die Lehre Gabirols der Entwickelung des natur- wissenschaftlichen Denkens viel entgegenkommender gegenüber, nämlich durch die Annahme einer einzigen, allen geistigen wie körperlichen, himmlischen wie irdischen Dingen zu Grunde liegenden Materie. Ist auch diese Materie nichts Körperliches, sondern zunächst eine Beziehungsform zwischen Begriffen, so bildet sie doch ein gemeinsames Band zwischen allen Dingen und Teilen des Universums. Der innere Konnex der Dinge ist nicht mehr durch die Formen, sondern durch die Materie gewährleistet, und beide Prinzipien des Seins sind einander näher gebracht. Die Selbständigkeit der Materie ist ge-
1 A. a. O. II, 28. p. 35.
2Munk, Melanges etc. p. 199, 200.
Ibn Gabirol: Einheit der Materie.
allen die Form der Einheit gemeinsam ist, während sie sich nur durch ihr Substrat unterscheiden. Die Einheit bedingt das Wesen der Materie; einer feinen und einfachen Materie ist die Einheit konform und bildet mit ihr ein aktuell unteilbares Ding; einer groben Materie gegenüber ist die Einheit zu schwach, um sie zu einen und ihrem eigenen Wesen zu verähn- lichen; infolgedessen tritt die Trennung und Zerstreuung der Materie und die Vervielfältigung und Teilung der Einheit ein.1
Zwischen Gott und der Körperwelt muß ein Mittleres existieren. Diese Vermittelung bilden die einfachen geistigen Substanzen, deren man im ganzen drei oder, wenn man will, fünf anzunehmen hat, nämlich der allgemeine Intellekt, die all- gemeine Seele, welche als vernünftige, vitale und vegetative zu unterscheiden ist, und die Natur. Jede folgende ist der vorangehenden untergeordnet, die Natur bewegt die Elemente, indem sie ihre Anziehung, Umwandlung und Ausscheidung bewirkt; die Körper haben keinerlei Bewegung in sich selbst.2
Des Aristoteles Begriff von Materie und Form, wonach jeder Gattungsbegriff für den allgemeineren als spezialisierende Form, für den engeren als zu bestimmende Materie angesehen werden kann, ist bei Ibn Gabirol mit Hilfe neuplatonischer Hypostasierungen und Emanationslehren zu einem metaphysischen System geworden, das offenbar vielfach an Scotus Erigena erinnert. Daher wird auch, was bei jener Gelegenheit über das Denkmittel der Substanzialität zu sagen war, zum großen Teil auf Ibn Gabirol anwendbar sein. In andrer Hinsicht aber steht die Lehre Gabirols der Entwickelung des natur- wissenschaftlichen Denkens viel entgegenkommender gegenüber, nämlich durch die Annahme einer einzigen, allen geistigen wie körperlichen, himmlischen wie irdischen Dingen zu Grunde liegenden Materie. Ist auch diese Materie nichts Körperliches, sondern zunächst eine Beziehungsform zwischen Begriffen, so bildet sie doch ein gemeinsames Band zwischen allen Dingen und Teilen des Universums. Der innere Konnex der Dinge ist nicht mehr durch die Formen, sondern durch die Materie gewährleistet, und beide Prinzipien des Seins sind einander näher gebracht. Die Selbständigkeit der Materie ist ge-
1 A. a. O. II, 28. p. 35.
2Munk, Mélanges etc. p. 199, 200.
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Ibn Gabirol: Einheit der Materie.
allen die Form der Einheit gemeinsam ist, während sie sich nur
durch ihr Substrat unterscheiden. Die Einheit bedingt das
Wesen der Materie; einer feinen und einfachen Materie ist die
Einheit konform und bildet mit ihr ein aktuell unteilbares
Ding; einer groben Materie gegenüber ist die Einheit zu
schwach, um sie zu einen und ihrem eigenen Wesen zu verähn-
lichen; infolgedessen tritt die Trennung und Zerstreuung der
Materie und die Vervielfältigung und Teilung der Einheit ein. 1
Zwischen Gott und der Körperwelt muß ein Mittleres
existieren. Diese Vermittelung bilden die einfachen geistigen
Substanzen, deren man im ganzen drei oder, wenn man will,
fünf anzunehmen hat, nämlich der allgemeine Intellekt, die all-
gemeine Seele, welche als vernünftige, vitale und vegetative
zu unterscheiden ist, und die Natur. Jede folgende ist der
vorangehenden untergeordnet, die Natur bewegt die Elemente,
indem sie ihre Anziehung, Umwandlung und Ausscheidung
bewirkt; die Körper haben keinerlei Bewegung in sich selbst. 2
Des Aristoteles Begriff von Materie und Form, wonach
jeder Gattungsbegriff für den allgemeineren als spezialisierende
Form, für den engeren als zu bestimmende Materie angesehen
werden kann, ist bei Ibn Gabirol mit Hilfe neuplatonischer
Hypostasierungen und Emanationslehren zu einem metaphysischen
System geworden, das offenbar vielfach an Scotus Erigena
erinnert. Daher wird auch, was bei jener Gelegenheit über
das Denkmittel der Substanzialität zu sagen war, zum großen
Teil auf Ibn Gabirol anwendbar sein. In andrer Hinsicht
aber steht die Lehre Gabirols der Entwickelung des natur-
wissenschaftlichen Denkens viel entgegenkommender gegenüber,
nämlich durch die Annahme einer einzigen, allen geistigen
wie körperlichen, himmlischen wie irdischen Dingen zu Grunde
liegenden Materie. Ist auch diese Materie nichts Körperliches,
sondern zunächst eine Beziehungsform zwischen Begriffen, so
bildet sie doch ein gemeinsames Band zwischen allen Dingen
und Teilen des Universums. Der innere Konnex der Dinge
ist nicht mehr durch die Formen, sondern durch die Materie
gewährleistet, und beide Prinzipien des Seins sind einander
näher gebracht. Die Selbständigkeit der Materie ist ge-
1 A. a. O. II, 28. p. 35.
2 Munk, Mélanges etc. p. 199, 200.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/185>, abgerufen am 28.11.2024.
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