Schule feindlichen Geiste einer neuen Zeit einen Zugang ins Innere des Systems, um dasselbe von innen heraus, gleichsam durch Ausweitung seiner schwächeren Stellen, zu zersetzen und zu stürzen.
Die Entwickelung des Körperbegriffs findet während der Herrschaft des Aristoteles im Mittelalter nur dort eine För- derung, wo sich im Innern des peripatetischen Lehrgebäudes ein derartiger Verwitterungsprozeß vollzieht und die ein- gedrungenen fremden Quellen die schwachen Stellen im Körper selbst zur Auflösung bringen.
Die bedenklichste dieser Stellen war das Verhältnis von Form und Materie zum Substanzbegriff. Substanz ist das Einzelwesen, das Einzelwesen selbst aber besteht nur in der Vereinigung von Form und Materie. Weder Form noch Materie sollen für sich als Substanzen gedacht werden, den- noch wird die Form vielfach als Substanz bezeichnet1, ist sie doch als das Zweckbestimmende und Begriffliche am Dinge das eigentlich Wirkliche, die Wirklichkeit Bedingende. Andrerseits beruht die Möglichkeit von Einzelwesen auf der Individuation der allgemeinen Materie; es scheint also, als ob auch der Stoff Substanz sein könnte. Aristoteles diskutiert diese Frage im 7. und 8. Buche der Metaphysik, aber seine unbestimmte Ent- scheidung kann wenig befriedigen. Die Form soll Substanz der Wirklichkeit nach, Materie Substanz der Möglichkeit nach sein. Wenn aber Substanz das für sich Existierende ist, wie kann etwas bloß der Möglichkeit nach Existierendes Substanz genannt werden? Und wie kann, da Substanz nur das Einzel- wesen ist, die noch nicht zum einzelnen bestimmte Materie Substanz sein oder werden? Form und Materie sind unvergäng- lich, nur die Einzelwesen werden und vergehen; also vergehen gerade nur die Substanzen, und Form und Materie, die selbst unvergänglich sind, bleiben bei der Trennung der Körper in völlig unbestimmtem Verhältnisse.
Es liegt somit hier eine unlösliche Schwierigkeit, die sich wohl historisch aus der verschiedenen Herkunft der Bestand- teile des aristotelischen Systems erklärt, systematisch aber zu immer neuen Deutungen führen mußte, die, je nachdem der
1 Vgl. Zeller, Phil. d. Griechen, 3. A. II, 2. S. 344 f.
Mängel des aristotelischen Substanzbegriffs.
Schule feindlichen Geiste einer neuen Zeit einen Zugang ins Innere des Systems, um dasselbe von innen heraus, gleichsam durch Ausweitung seiner schwächeren Stellen, zu zersetzen und zu stürzen.
Die Entwickelung des Körperbegriffs findet während der Herrschaft des Aristoteles im Mittelalter nur dort eine För- derung, wo sich im Innern des peripatetischen Lehrgebäudes ein derartiger Verwitterungsprozeß vollzieht und die ein- gedrungenen fremden Quellen die schwachen Stellen im Körper selbst zur Auflösung bringen.
Die bedenklichste dieser Stellen war das Verhältnis von Form und Materie zum Substanzbegriff. Substanz ist das Einzelwesen, das Einzelwesen selbst aber besteht nur in der Vereinigung von Form und Materie. Weder Form noch Materie sollen für sich als Substanzen gedacht werden, den- noch wird die Form vielfach als Substanz bezeichnet1, ist sie doch als das Zweckbestimmende und Begriffliche am Dinge das eigentlich Wirkliche, die Wirklichkeit Bedingende. Andrerseits beruht die Möglichkeit von Einzelwesen auf der Individuation der allgemeinen Materie; es scheint also, als ob auch der Stoff Substanz sein könnte. Aristoteles diskutiert diese Frage im 7. und 8. Buche der Metaphysik, aber seine unbestimmte Ent- scheidung kann wenig befriedigen. Die Form soll Substanz der Wirklichkeit nach, Materie Substanz der Möglichkeit nach sein. Wenn aber Substanz das für sich Existierende ist, wie kann etwas bloß der Möglichkeit nach Existierendes Substanz genannt werden? Und wie kann, da Substanz nur das Einzel- wesen ist, die noch nicht zum einzelnen bestimmte Materie Substanz sein oder werden? Form und Materie sind unvergäng- lich, nur die Einzelwesen werden und vergehen; also vergehen gerade nur die Substanzen, und Form und Materie, die selbst unvergänglich sind, bleiben bei der Trennung der Körper in völlig unbestimmtem Verhältnisse.
Es liegt somit hier eine unlösliche Schwierigkeit, die sich wohl historisch aus der verschiedenen Herkunft der Bestand- teile des aristotelischen Systems erklärt, systematisch aber zu immer neuen Deutungen führen mußte, die, je nachdem der
1 Vgl. Zeller, Phil. d. Griechen, 3. A. II, 2. S. 344 f.
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Mängel des aristotelischen Substanzbegriffs.
Schule feindlichen Geiste einer neuen Zeit einen Zugang ins
Innere des Systems, um dasselbe von innen heraus, gleichsam
durch Ausweitung seiner schwächeren Stellen, zu zersetzen
und zu stürzen.
Die Entwickelung des Körperbegriffs findet während der
Herrschaft des Aristoteles im Mittelalter nur dort eine För-
derung, wo sich im Innern des peripatetischen Lehrgebäudes
ein derartiger Verwitterungsprozeß vollzieht und die ein-
gedrungenen fremden Quellen die schwachen Stellen im Körper
selbst zur Auflösung bringen.
Die bedenklichste dieser Stellen war das Verhältnis von
Form und Materie zum Substanzbegriff. Substanz ist das
Einzelwesen, das Einzelwesen selbst aber besteht nur in der
Vereinigung von Form und Materie. Weder Form noch
Materie sollen für sich als Substanzen gedacht werden, den-
noch wird die Form vielfach als Substanz bezeichnet 1, ist sie
doch als das Zweckbestimmende und Begriffliche am Dinge das
eigentlich Wirkliche, die Wirklichkeit Bedingende. Andrerseits
beruht die Möglichkeit von Einzelwesen auf der Individuation
der allgemeinen Materie; es scheint also, als ob auch der Stoff
Substanz sein könnte. Aristoteles diskutiert diese Frage im
7. und 8. Buche der Metaphysik, aber seine unbestimmte Ent-
scheidung kann wenig befriedigen. Die Form soll Substanz
der Wirklichkeit nach, Materie Substanz der Möglichkeit nach
sein. Wenn aber Substanz das für sich Existierende ist, wie
kann etwas bloß der Möglichkeit nach Existierendes Substanz
genannt werden? Und wie kann, da Substanz nur das Einzel-
wesen ist, die noch nicht zum einzelnen bestimmte Materie
Substanz sein oder werden? Form und Materie sind unvergäng-
lich, nur die Einzelwesen werden und vergehen; also vergehen
gerade nur die Substanzen, und Form und Materie, die selbst
unvergänglich sind, bleiben bei der Trennung der Körper in
völlig unbestimmtem Verhältnisse.
Es liegt somit hier eine unlösliche Schwierigkeit, die sich
wohl historisch aus der verschiedenen Herkunft der Bestand-
teile des aristotelischen Systems erklärt, systematisch aber zu
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1 Vgl. Zeller, Phil. d. Griechen, 3. A. II, 2. S. 344 f.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/176>, abgerufen am 27.11.2024.
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