Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Mutakallimun: Fortwährende Schöpfung.
dem Belieben Gottes, diese Welten so aufeinander folgen zu
lassen, daß sie einen Zusammenhang für uns bilden. Damit
ist nun freilich das Kausalgesetz aufgehoben, der atomistische
Gedanke bis in die äußerste Konsequenz durchgeführt, jede
Kontinuität des Geschehens zerstört und die Wissenschaft ver-
nichtet.1

Um so unantastbarer steht die absolute Willkür des
Schöpfers fest. Da die Erfahrung uns einen Zusammenhang
des Geschehens zeigt, so kann nur Gott es sein, der alle Zu-
stände in der passenden Weise aufs neue schafft. Wenn der
Mensch schreibt, so ist es nicht dieser, der die Handlung aus-
führt und die Feder bewegt, denn kein Zustand kann von
seinem Substrat auf ein andres übergehen; sondern Gott
schafft in jedem Momente den Zustand des Wollens zum
Schreiben, den Zustand der Fähigkeit, die Feder zu bewegen,
den Zustand der Handbewegung, den Zustand der Bewegung
der Feder. Alle diese Zustände sind nur koexistent, aber
nicht kausal. Wenigstens ist dies die richtige Konsequenz
aus den früheren Annahmen, welche die Ascharija gezogen
haben.

Endlich schafft Gott nicht nur die positiven Zustände,
sondern ebenso die negativen, die Privationen. Auch die Ruhe
als Gegensatz der Bewegung, die Unkenntnis als Gegensatz
des Wissens, der Tod als Gegensatz des Lebens sind reelle,
in den Substanzen positiv vorhandene Zustände, welche Gott
fortwährend aufs neue schafft und die an sich nur je einen
Moment dauern. Gegenüber dieser Ansicht der überwiegenden
Mehrheit der Mutakallimun geben nur einige Mutazila für
gewisse Zustände die bloße Privation zu, jedoch keineswegs
für alle. Insbesondere behaupten gerade die Mutazila, daß
es zur Vernichtung der Welt nicht ausreiche, daß Gott auf-
höre die Atome mit ihren Zuständen zu schaffen, sondern daß
er zu diesem Zwecke direkt den Zustand des Zerstörtseins
schaffen müsse. Für die Physik, wenn man von einer solchen
unter diesen Umständen noch sprechen darf, ergibt sich die

1 Es muß hier erwähnt werden, daß nicht alle Mutakallimun bis zu
diesen letzten Konsequenzen fortgehen, sondern einige auch, freilich ohne System,
eine Dauer gewisser Zustände oder der Substanzen zugeben. Vgl. die in vor. Anm.
citierten Stellen. Die konsequente Ansicht ist jedenfalls die im Text gegebene.

Mutakallimun: Fortwährende Schöpfung.
dem Belieben Gottes, diese Welten so aufeinander folgen zu
lassen, daß sie einen Zusammenhang für uns bilden. Damit
ist nun freilich das Kausalgesetz aufgehoben, der atomistische
Gedanke bis in die äußerste Konsequenz durchgeführt, jede
Kontinuität des Geschehens zerstört und die Wissenschaft ver-
nichtet.1

Um so unantastbarer steht die absolute Willkür des
Schöpfers fest. Da die Erfahrung uns einen Zusammenhang
des Geschehens zeigt, so kann nur Gott es sein, der alle Zu-
stände in der passenden Weise aufs neue schafft. Wenn der
Mensch schreibt, so ist es nicht dieser, der die Handlung aus-
führt und die Feder bewegt, denn kein Zustand kann von
seinem Substrat auf ein andres übergehen; sondern Gott
schafft in jedem Momente den Zustand des Wollens zum
Schreiben, den Zustand der Fähigkeit, die Feder zu bewegen,
den Zustand der Handbewegung, den Zustand der Bewegung
der Feder. Alle diese Zustände sind nur koexistent, aber
nicht kausal. Wenigstens ist dies die richtige Konsequenz
aus den früheren Annahmen, welche die Ascharija gezogen
haben.

Endlich schafft Gott nicht nur die positiven Zustände,
sondern ebenso die negativen, die Privationen. Auch die Ruhe
als Gegensatz der Bewegung, die Unkenntnis als Gegensatz
des Wissens, der Tod als Gegensatz des Lebens sind reelle,
in den Substanzen positiv vorhandene Zustände, welche Gott
fortwährend aufs neue schafft und die an sich nur je einen
Moment dauern. Gegenüber dieser Ansicht der überwiegenden
Mehrheit der Mutakallimun geben nur einige Mutazila für
gewisse Zustände die bloße Privation zu, jedoch keineswegs
für alle. Insbesondere behaupten gerade die Mutazila, daß
es zur Vernichtung der Welt nicht ausreiche, daß Gott auf-
höre die Atome mit ihren Zuständen zu schaffen, sondern daß
er zu diesem Zwecke direkt den Zustand des Zerstörtseins
schaffen müsse. Für die Physik, wenn man von einer solchen
unter diesen Umständen noch sprechen darf, ergibt sich die

1 Es muß hier erwähnt werden, daß nicht alle Mutakallimun bis zu
diesen letzten Konsequenzen fortgehen, sondern einige auch, freilich ohne System,
eine Dauer gewisser Zustände oder der Substanzen zugeben. Vgl. die in vor. Anm.
citierten Stellen. Die konsequente Ansicht ist jedenfalls die im Text gegebene.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0161" n="143"/><fw place="top" type="header">Mutakallimun: Fortwährende Schöpfung.</fw><lb/>
dem Belieben Gottes, diese Welten so aufeinander folgen zu<lb/>
lassen, daß sie einen Zusammenhang für uns bilden. Damit<lb/>
ist nun freilich das Kausalgesetz aufgehoben, der atomistische<lb/>
Gedanke bis in die äußerste Konsequenz durchgeführt, jede<lb/>
Kontinuität des Geschehens zerstört und die Wissenschaft ver-<lb/>
nichtet.<note place="foot" n="1">Es muß hier erwähnt werden, daß nicht alle Mutakallimun bis zu<lb/>
diesen letzten Konsequenzen fortgehen, sondern einige auch, freilich ohne System,<lb/>
eine Dauer gewisser Zustände oder der Substanzen zugeben. Vgl. die in vor. Anm.<lb/>
citierten Stellen. Die konsequente Ansicht ist jedenfalls die im Text gegebene.</note></p><lb/>
            <p>Um so unantastbarer steht die absolute Willkür des<lb/>
Schöpfers fest. Da die Erfahrung uns einen Zusammenhang<lb/>
des Geschehens zeigt, so kann nur Gott es sein, der alle Zu-<lb/>
stände in der passenden Weise aufs neue schafft. Wenn der<lb/>
Mensch schreibt, so ist es nicht dieser, der die Handlung aus-<lb/>
führt und die Feder bewegt, denn kein Zustand kann von<lb/>
seinem Substrat auf ein andres übergehen; sondern Gott<lb/>
schafft in jedem Momente den Zustand des Wollens zum<lb/>
Schreiben, den Zustand der Fähigkeit, die Feder zu bewegen,<lb/>
den Zustand der Handbewegung, den Zustand der Bewegung<lb/>
der Feder. Alle diese Zustände sind nur koexistent, aber<lb/>
nicht kausal. Wenigstens ist dies die richtige Konsequenz<lb/>
aus den früheren Annahmen, welche die Ascharija gezogen<lb/>
haben.</p><lb/>
            <p>Endlich schafft Gott nicht nur die positiven Zustände,<lb/>
sondern ebenso die negativen, die Privationen. Auch die Ruhe<lb/>
als Gegensatz der Bewegung, die Unkenntnis als Gegensatz<lb/>
des Wissens, der Tod als Gegensatz des Lebens sind reelle,<lb/>
in den Substanzen positiv vorhandene Zustände, welche Gott<lb/>
fortwährend aufs neue schafft und die an sich nur je einen<lb/>
Moment dauern. Gegenüber dieser Ansicht der überwiegenden<lb/>
Mehrheit der Mutakallimun geben nur einige Mutazila für<lb/>
gewisse Zustände die bloße Privation zu, jedoch keineswegs<lb/>
für alle. Insbesondere behaupten gerade die Mutazila, daß<lb/>
es zur Vernichtung der Welt nicht ausreiche, daß Gott auf-<lb/>
höre die Atome mit ihren Zuständen zu schaffen, sondern daß<lb/>
er zu diesem Zwecke direkt den Zustand des Zerstörtseins<lb/>
schaffen müsse. Für die Physik, wenn man von einer solchen<lb/>
unter diesen Umständen noch sprechen darf, ergibt sich die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0161] Mutakallimun: Fortwährende Schöpfung. dem Belieben Gottes, diese Welten so aufeinander folgen zu lassen, daß sie einen Zusammenhang für uns bilden. Damit ist nun freilich das Kausalgesetz aufgehoben, der atomistische Gedanke bis in die äußerste Konsequenz durchgeführt, jede Kontinuität des Geschehens zerstört und die Wissenschaft ver- nichtet. 1 Um so unantastbarer steht die absolute Willkür des Schöpfers fest. Da die Erfahrung uns einen Zusammenhang des Geschehens zeigt, so kann nur Gott es sein, der alle Zu- stände in der passenden Weise aufs neue schafft. Wenn der Mensch schreibt, so ist es nicht dieser, der die Handlung aus- führt und die Feder bewegt, denn kein Zustand kann von seinem Substrat auf ein andres übergehen; sondern Gott schafft in jedem Momente den Zustand des Wollens zum Schreiben, den Zustand der Fähigkeit, die Feder zu bewegen, den Zustand der Handbewegung, den Zustand der Bewegung der Feder. Alle diese Zustände sind nur koexistent, aber nicht kausal. Wenigstens ist dies die richtige Konsequenz aus den früheren Annahmen, welche die Ascharija gezogen haben. Endlich schafft Gott nicht nur die positiven Zustände, sondern ebenso die negativen, die Privationen. Auch die Ruhe als Gegensatz der Bewegung, die Unkenntnis als Gegensatz des Wissens, der Tod als Gegensatz des Lebens sind reelle, in den Substanzen positiv vorhandene Zustände, welche Gott fortwährend aufs neue schafft und die an sich nur je einen Moment dauern. Gegenüber dieser Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Mutakallimun geben nur einige Mutazila für gewisse Zustände die bloße Privation zu, jedoch keineswegs für alle. Insbesondere behaupten gerade die Mutazila, daß es zur Vernichtung der Welt nicht ausreiche, daß Gott auf- höre die Atome mit ihren Zuständen zu schaffen, sondern daß er zu diesem Zwecke direkt den Zustand des Zerstörtseins schaffen müsse. Für die Physik, wenn man von einer solchen unter diesen Umständen noch sprechen darf, ergibt sich die 1 Es muß hier erwähnt werden, daß nicht alle Mutakallimun bis zu diesen letzten Konsequenzen fortgehen, sondern einige auch, freilich ohne System, eine Dauer gewisser Zustände oder der Substanzen zugeben. Vgl. die in vor. Anm. citierten Stellen. Die konsequente Ansicht ist jedenfalls die im Text gegebene.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/161
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/161>, abgerufen am 26.11.2024.